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Full text of "Sokrates und die Ethik"

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ROBBINS LIBRARY 



DEPARTMENT OF PHILOSOPHY 




Sokrates und die Ethik. 



Herman Nohl. 



Tübingen und Leipzig 
Vertag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 



Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig. 

ETHIK. 

Von 

D. W. Herrmannj^ 

Professor der Theologie an der Universität Marburg. 

Dritte Auflage. 

(Grundriss der theologischen Wissenschaften. V n.) 

8. ca. M. 3.60. Gebunden ca. M. 4.60. 

(Unter der Presse.) 



ETHIK. 

Von 

Dr. A. Hoffmann^ 

Pfarrer in Gruibingen (Württemberg). 

8. 1897. M. 2.50. Gebunden M. 3.50. 



Einleitung in die christliche Ethik. 

Von 

Professor Dr. H. Weiss. 

Gross 8. 1889. M. 5.—. Gebunden M. 7.—. 
(Sammlung theologischer Lehrbücher.) 

Die Psychologie in Kant's Ethik. 

Von 

D. Alfred Hegler^ 

weil. Professor in Tübingen. 

8. 1891. M. 8.—. 

Ethisches Wissen und ethisches Handeln. 

Ein Beitrag zur Methodenlehre der Ethik 

von 

Dr. Paul Hensely 

jetzt Professor an der Universität Heidelberg. 

8. 1889. M. 1.50. 



Wissenschaftliche Ethik 

und 

moralische Gesetzgebung. 

Grundgedanken einer Kritik der gegenwärtigen Ethik 

von 

D. Otto Ritschi, 

Professor an der Universität Bonn. 

8. 1903. M. 1.—. 



Sokrates und die Ethik, 



Sokrates und die Ethik. 



Herman Nohl. 



Tübingen und Leipzig 

VsTÜg von J. C B. Mohr (Paul Siebeck) 
1904. 



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HARVARD uwvmmr. 

lAüVARD COLLEGE LIBRAIT 



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Die VerJagahandltmg behält sich das Becht der Uebersetzwng 

in fremde Sprachen vor. 



C. A. Wagners Universitäts-Buchdruckerei, Freiburg i. Br, 



Meinen lieben Eltern 



Inhalt. 

Seite 

Einleitung 1 

I. Skeptizismus und Idealismus der Subjektivität ... 4 

n. Aufklärung 11 

in. Pädagogik und Ehetorik 26 

lY. Der neue Erfahrungsstandpunkt 33 

V. Freiheit 61 

VI. Die Aporie des Sokrates 55 

Vn. Grund der Aporie und ihre Konsequenzen bei den 

Schülern 64 



— 1 — 



Das Verständnis einer grossen historischen Erschei- 
nung wird immer dadurch allein gefördert, dass die Er- 
kenntnisstellung der eigenen Zeit, ihre neu errungene 
Antwort auf die Fragen des Daseins die Vergangenheit 
Ton neuem erhellt. Mir hat die Ueberzeugung von der 
Irrationalität des Lebens und der Unmöglichkeit, das 
ethische Verhalten des Menschen begriflflich fassen zu 
können, das Licht gegeben, mich in dem so durch- 
wühlten Labyrinth der sokratischen Frage zu orien- 
tieren und, wie ich glaube, diese ewig zu betrachtende 
Tatsache von neuem fruchtbar zu behandeln. 

Das sokratische Bekenntnis des Nichtwissens rückte 
mir damit an die entscheidende Stelle der Untersuchung; 
es war das notwendige Ergebnis einer Fragestellung, 
die die Werte und Güter des Willens nicht einseitig 
konstruieren, sondern in ihrer Totalität begreifen will. 
Die Tatsache, dass die Dialoge des jungen Plato eben- 
falls alle erfolglos enden, legte die Annahme nahe, dass 
die Voraussetzungen, die hier gelten und eine Lösung 
nicht möglich machen, in dem Standpunkt des Sokrates 
gegründet sind, der dann von hier aus naher bestimmt 
werden konnte. Diese Kombination vermag den ab- 

Nohl, Sokrates und die Ethik. 2 



— 2 — 

gegriffenen sokratischen Sätzen vielleicht einen neuen 
Glanzblick zu entlocken; ich verdanke sie meinem hoch- 
verehrten Lehrer, Wilhelm Dilthey. Die neue Antwort 
gab neue Fragen. Die wichtigste war mir die nach der 
Möglichkeit des seltsamen Erfahrungsstandpunktes des 
sokratischen Idealismus, der den Meister vollständig 
trennt von seinen Schülern, wie von der vorangegangenen 
Spekulation und Sophistik. Ob mein Versuch, ihn zu 
der neuen Medizin in Beziehung zu setzen, gelungen ist, 
weiss ich nicht, von der Tatsache der Abhängigkeit bin 
ich aber überzeugt, auch wenn ich es nicht bewiesen 
habe. Es werden das dann andere tun, denen die 
Uebersicht über die Quellen leichter und weiter ist, als 
dem Philosophen; der bleibt auf dem Boden des Alter- 
tums immer ein fremder Gast, das ist keinem mehr be-r 
wusst als mir. Es wird trotzdem von Wert sein, wenn 
er die Mittel, die ihm aus seiner Lebensbeschäftigung 
geworden sind, auch dort einmal anwendet, so viele 
Schwierigkeiten und Gefahren ihm der Stoflf auch hier 
bereitet. Durch die endlose Literatur habe ich mich 
natürlich hindurch gelesen. Das eine oder andere Buch 
mag ich doch übersehen haben. Geholfen hätte es 
mir wohl kaum. Zu Grunde liegen immer dieselben 
Stellen, die in ihrer schillernden Lebendigkeit so rätsel- 
haft vielseitig sind, dass sie, neu verschoben, immer 
neue Ansichten zeigen. Wie in einer chemischen Lö- 
sung sich die Stoffe um jedes Fädchen kristallisieren, 
so lässt sich auch hier das Material immer neu ge- 
stalten. Wer will das erschöpfen? Auch ich habe 
nur einzelne Stücke herausgreifen wollen; für den, der 
die Quellen kennt, gruppieren sich die zahllosen Teil-^ 



] 



eben, die unberücksichtigt blieben, schnell von selbst. 
Die tiefsinnige Darstellung Hegels, die einfache Poesie 
Ivo Bruns', die geistvolle Polemik Pöhlmanns, wie die 
leidenschaftliche Innerlichkeit des Diltheyschen Kollegs 
behalten ihren zeitlosen Wert, und vieles fehlt in 
meiner Arbeit nur, weil ich vrusste, wie gross und 
schön es in diesen Werken zum Ausdruck kam. Auch 
dem Buche Joels verdanke ich viel und habe es 
immer, wenn ich auch meistens anderer Meinung war, 
neben mir gehabt. Die Polemik habe ich wie über- 
haupt, so auch hier vermieden, und wer die ungeheure 
Arbeit kennt, die in diesen drei Bänden gerade durch 
die mühselige Auseinandersetzung mit der ganzen Lite- 
ratur geleistet ist, wird das verstehen. Aber auch über 
die Benutzung der Quellen eine ausführliche Recht- 
fertigung vorauszuschicken halte ich für zwecklos. Nach 
meiner Kenntnis hat diese alte Gewohnheit zu gar keinem 
Erfolg geführt, man kann bei der schönsten allgemeinen 
Aufstellung nachher doch noch ganz falsch greifen. Es 
gibt eben hier keinen einzigen festen Punkt und Mass- 
stab. Auch die platonische Apologie und den Aristoteles 
muss man so kritisch gebrauchen wie die Memorabilien. 
Jede einzelne Stelle will immer von neuem auf ihre 
Beweisfähigkeit geprüft sein. Das Entscheidende bleibt 
schliesslich doch die leitende hypothetische Anschauung 
von der Struktur der Person und der möglichen Ent- 
wicklung des ganzen Zusammenhangs, gewonnen aus 
der Kenntnis der philosophischen Probleme, ihren typi- 
schen Lösungen und ihrer eigenen Dialektik. Diese 
herauszuarbeiten aus dem Material ist meine ganze Mühe 
gewesen. 

1* 



— 4 — 

Das letzte Ziel bleibt immer der Blick in den 
geschichtlichen Grund unserer eigenen Ueberzeugung, 
ihre Bewährung vor der historischen Besinnung über 
den Gang des Denkens, die mehr ist als die bloss ra* 
tionelle Kritik, die jeden fremden Standpunkt widerlegt, 
statt ihn in seinem produktiven Wert zu begreifen. Dar- 
über hinaus aber geht das Nacherleben eines Menschen, 
der unsere Existenz in der erhabensten Weise durch- 
gemacht hat. Nur so erfahrt der Mensch, was er ver- 
mag. An der fremden Grösse steigert sich das eigene 
Wesen und wächst in seinem besten Willen. Das ist 
die lebendige ethische Bedeutung der geschichtlichen 
Arbeit. 

I. 

Skeptizismus und Idealismus der 

Subjektivität. 

Wie ein Bildungsgesetz des „Idealismus der Sub- 
jektivität"^ erscheint in der Geschichte dieser Lebens- 
anschauung die innere Verbindung mit dem Skeptizismus. 
Wenn sich die Aussenwelt dem Begreifen verschliesst, 
wenn die bisherigen Denkmittel ihre Gültigkeit zu ver- 
lieren drohen, flüchtet sich das nach Sicherheit und 
Wahrheit verlangende Subjekt in die Gewissheit seiner 
Innerlichkeit. Hier in den grossen Erlebnissen seiner 
Seele entdeckt es die Kealität, die ihm genug tut, die 
es sich verständlich machen muss. Und es glaubt hier 



* lieber den Idealismus der Subjektivität vgl. Dilthey im Ar- 
chiv f. Gesch. der Philos. XI 551 ff. 



— B — 

zum Ziel gelangen zu können, weil ihm die Begriffe, 
mit denen es zu tun hat, und der Massstab, an dem sie 
sich bewähren müssen, als aus ihm selber stammend 
sichtbar werden. 

Die Art und "Weise, wie diese Entwicklung vor 
sich geht, ist verschieden gewesen. Immer aber blieb 
die irgendwie bestimmte Verneinung von Erkenntnis, 
und zwar mit steigender Vertiefung, das Moment, wel- 
ches das Bewusstsein der Person, ihren Besitz und 
ihre Wünsche hervortreibt. Ein kurzer Ueberblick ge- 
nügt, das zu zeigen. 

Im Bringen mit dem unfassbaren Wandel der Er- 
scheinung, wie er von Heraklit überkommen war, mit den 
Aporien des Wissens, die in den sokratischen Schulen 
auf allen Seiten auftauchten, ging Flato^ zurück in die 
Seele und ihren transzendenten Gehalt. Gegenüber der 
Kritik des Kameades hat sich die willensmächtige Form 
der neuen Stoa in Fanätius erhoben. Als in der ]^sis 
der antiken Systeme das Kriterium der Wahrheit zu ver- 
schwinden scheint, bäumt sich die praktische Gewissheit 
im römischen Geist empor, und in dem unmittelbaren 
Bewusstsein wird die Norm gefunden. Mit seinem in der 
Schule Hegels für solche Dinge geübten Auge hat Zeller* 
hier dieses Verhältnis wohl gesehen. Sein Irrtum aber 
ist, dass er in dem „Frinzip des unmittelbaren Wissens", 
des „Vertrauens auf dasjenige, was dem Menschen vor 
aller wissenschaftlichen Untersuchung gewiss ist", bei 
Cicero und andern nicht mehr entdeckte als „den letzten 



* Vgl. die Erzählung seiner Entwicklung im Phädon 96 — 100. 
« Zeller im 540 ff. 



— 6 — 

Halt in dem eklektischen Schwanken". Er fühlte hier 
die lebensstarken Grundlagen dieses Standpunktes der 
Persönlichkeit nicht heraus. Schliesslich war dann doch 
der Skeptizismus das Grab des antiken, rational zer* 
setzten Geistes, und im Christentum erfuhr der Mensch 
seine Wiedergeburt, sein neues „Leben". Von allen 
Seelen, die damals dieses Schicksal durchmachten, hat 
es am tiefsten Augustin ausgesprochen. Und er fand 
die wissenschaftliche Begründung des neuen Standpunktes, 
indem er sich mit der Akademie auseinandersetzte und 
die Selbstgewissheit an den Zweifel selber knüpfte ^ wie 
es dann im 17« Jahrhundert der französischen Skepsis 
gegenüber Descartes ganz ebenso tat. Dass auch die 
schottische Schule ein „Erzeugnis" der Himieschen 
Kritik war, darauf macht schon Zeller' aufmerksam. 
Auch Kant ist von ihr bedingt und entdeckte hinter den 
Antinomien die Wahrheit des schöpferisch-tätigen Sub- 
jekts. Von Zinzendorf^ bis Hamann^ und Jakobi 
hat sich der christliche Glaube so orientiert. Fichtes 
Steigerung des Kantischen Idealismus hat zur Voraus- 
setzung die Kritik des Aenesidemus-Schultze. Und noch 
der moderne Standpunkt der Selbstbesinnung, in 
dem diese ganze Arbeit erkenntnistheoretisch ihre wissen- 
schaftliche Vollendung fand, entwickelte sich seit Locke^ 
an dem Skeptizismus. Stets ist damit verbunden ein 
frisches Aufnehmen der ganzen Lebenstätigkeit auf tieferer 



> Dilthey, Einleitung S. 329 f. 
« Zell er m^ 542 Anm. 
» Sokrates 1725. 

* Sokratische Denkwürdigkeiten 1759. 

* Vgl. Untersuchungen über d. m. Verst., besonders IV 12 ii. 



— 7 — 

Grundlage, ein neues Fundieren des gesamten Wissens 
und, gegenüber den Problemen der "Wahrheit und des 
Wollens, ein vorläufiges Zurücktreten der äusseren Welt. 

In dem Lebensgefühl des Sokrates ist diese Dialektik 
zum erstenmal wirksam gewesen, wie er denn auch meistens, 
wenn sie in der Geschichte von neuem auftrat, gegen- 
wärtig war. Die richtige Perspektive für ihn gewinnt 
man am leichtesten, wenn man dieses Verhältnis des 
Skeptizismus zu seinem Bewusstsein zunächst heraushebt. 
In irgend einer Weise — wir werden nachher sehen, ob 
sich da vielleicht eine bestimmtere Möglichkeit zeigt — 
hat er die Schule der vorangegangenen Skepsis, wie sie 
die Jünger der Eleaten und des Heraklit sowohl, als 
die neue Medizin gleichmässig entwickelt hatten, durch- 
gemacht. Auch ihm ist die Aussenwidt verschlossen, 
alle Aussagen über sie widersprucli«voll. (Xen. Mem. 
1 1 11—14, Plato Apol. m 19 D.) Ob die Begründung dieser 
Skepsis, die ihm Xenophon in den Mund legt, seine 
eigene war und ob sie ihm ausreichend erschienen wäre, 
wissen wir nicht, doch ist es wahrscheinlich. Sicher ist, 
dass für ihn fcein Weg in die kosmische Natur führt, 
dass ihm aber, gegenüber diesem Verzicht, die Eealität 
-der «Chischen Begriffe und die Möglichkeit, sie rationell 
zu begreifen, feststeht — nicht Bealität überhaupt, da- 
von weiss der Grieche noch nichts (vgl. Dilthey, Ein- 
leitung S. 224); es handelt sich hier immer erst nur um 
die Realität des Wissens. — 

Das war seine Voraussetzung, und er begründete sie 
zunächst mit der Notwendigkeit des Lebens K Der Wider- 



* Mem. I 1 12—16. 



— 8 — 

streit der Begriffe, der ihm in der Naturphilosophie jedes 
Begreifen zu verbieten schien, ist ihm hier die Auffor- 
derung zu seiner Lösung. In allen Wissenschaften des 
praktischen Lebens ist man einig über Zweck und Mittel, 
nur über gut und böse, gerecht und ungerecht ist man 
es nicht. Sokrates schliesst jetzt nicht: „also gibt es 
kein "Wissen", sondern: „es muss gesucht werden". Der 
praktisch-ethische Wille in ihm fordert eine Erkenntnis 
des Lebensziels. Und die Möglichkeit, hier zur Einsicht 
zu gelangen, scheint ihm vorhanden, weil die Begriffe 
und Tatsachen, um die es sich handelt, in dem Bewusst- 
sein des Menschen selber gegeben sind (vgl. Charmides 
159 A. s. u.), weil hier jede Aussage an der Erfahrung 
und dem Bewusstsein des andern geprüft werden kann. 
Aber auch hier schiebt er mit einem mächtigen Ent- 
schluss die gewohnten Urteile beiseite. Der ganze em- 
pirische Gehalt des Bewusstseins hat keine Gültigkeit, 
denn er ist nicht wahrhaft gewusst. Ja Sokrates muss 
eine Zeit seines Lebens — wie Kant, als er seine „Träume 
eines Geistersehers" schrieb, in denen er sich auf Sokrates 
beruft — auch hier im Zustand der skeptischen Rat- 
losigkeit gewesen sein (Apol. 21), bis die Erkenntnis 
des Nichtwissens der Anfang des neuen Wissens wurde. 
Ein ähnlicher Moment war das, wie ihn später Des- 
cartes durchlebte. So hat er seine positive Lebens- 
arbeit mit dem absoluten Zweifel begonnen, in dem das 
„Ich weiss, dass ich nichts weiss" den festen Punkt der 
ersten Gewissheit darstellt; denn damit ist das Bewusst- 
sein einer wahren Erkenntnis aufgegangen, als eines Zu- 
sammenhanges begründeter Urteile, der keinem Wider- 
spruch unterliegt. Das ist sein Wissen, zunächst ein 



rein formales, mit dem er sich aber der ganzen Zeit 
überlegen fühlt. Nur auf diese Weise lässt sich die 
merkwürdige Schilderung der Apologie verstehen, in der 
die Aufdeckung des Nichtwissens scheinbar das letzte 
Ziel ist. 

Das neue Wissen nach seinem Inhalt wird nun 
gesucht durch methodische Selbstbesinnung. Der Gehalt 
der Seele enthält selber seine Wahrheit. Das ^vA^t csaoTÖv 
ist nicht bloss jene negative Einsicht der eigenen Un- 
wissenheit, dies seltsame, intellektuell-ethische Gegenbild 
zur christlichen Unwürdigkeit, sondern ist sein wissen- 
schaftliches Verfahren, das auf positives Wissen ausgeht. 
Die genaue Beschreibung dieser Selbstbeobachtung, deren 
erkenntnistheoretische Bedeutung ihm augenscheinlich 
ganz klar bewusst ist, findet sich im Charmides 169 A: 
„Auf folgende Art scheint mir die Untersuchung darüber 
am besten vor sich zu gehen. Offenbar wirst du doch, 
wenn dir Besonnenheit beiwohnt (wdipeaTt), etwas über sie 
auszusagen wissen, denn notwendig muss ihr Einwohnen, 
wenn sie in dir ist (Iveott), irgend eine Empfindung 
(aia*7]otc) hervorbringen, woraus dir dann eine Vorstel- 
lung über die Besonnenheit entsteht, was sie ist. Und 
dies muss sich auch aussprechen lassen, als was sie 
dir erscheint." Man denke dabei an die Aporien des 
Gorgias. Und dann wieder 160 D E: „Noch genauer 
aufmerkend und in dich selbst blickend, beobachte, wozu 
dich die dir einwohnende Besonnenheit macht, und was 
sie wohl sein muss, um dich zu einem solchen zu machen 
und dies alles zusammennehmend (aoXXo7tod[jL8voc) sage, 
als was sie dir erscheint." Ganz ebenso im Laches 
189 E— 190, 193 E, 194 B C. Der Besitz der Seele soll 



— 10 — 

durch die Bede logisch begründet werden. Das Vorhanden- 
sein der Tapferkeit in den Unterrednern wird zunächst 
sogar von Sokrates selbst anerkannt (193 E.). Dann 
erscheint der Gegensatz, der im Xenophon eine solche 
Rolle spielt: ^pYq) jiiv ifdp, ü)c Sotxe, ^aiTj äv ttc fj|i.a<; 
dvSpstac (JLST^x^iv, Xöycp Sk oox. Von diesem Satz aus 
überschaut man den I^ortgang von Sokrates zu Plato 
sowohl wie zu Antisthenes ganz: die grossen Tatsachen 
sind unwiderleglich y sie wohnen der Menschenseele ein. 
Lässt sich die ihnen immanente Logik nicht finden, 
— und das sollte die Erfahrung des Sokrates werden — 
so erfindet man die Hypothese einer transzendenten Logik 
gleichsam, in der die Prädikate der Seele sich als meta- 
physische einreisen und die Begriffe, die ihr beigegeben 
werden köAnen, zu Ideen werden, oder man wirft die Logik 
überhaupt beiseite und hält sich an das Erlebnis. So wird 
sich uns später die Entwicklung darstellen. Zunächst aber 
hat dasr Bewusstsein an sich selbst genug und glaubt, sich 
ganz verständlich werden zu können. Als wahr erscheint 
jedes Urteil, das dem Satz des Widerspruchs nicht unter- 
liegt uhd sich in der Einheit des Geistes bewährt. Es ist 
die dein Idealismus der Subjektivität eigene Methode, die 
hier zWar — wie wir sehen werden — unter den merk- 
würdigen historischen Bedingungen der Rhetorik als der 
Form des wissenschaftlichen Betriebes in der Gestalt des 
Dialogs und Angeregt durch das Vorbild der Medizin 
sich entwickelt, deren letzter Erkenntnisgrund ^Jaer wadsL 
hier das sittliche Bewusstsein und die Behauptung seiner 
Einheit ist. 



— 11 — 
n. 

Aufklärung. 

Damit ist aber gleichsam nur der geometrische Ort 
der sokratischen Philosophie bezeichnet, nicht eigentlich 
ihre historische Lage. Man hat den Gang der griechischen 
Philosophie, mit falschem Absehn von dem ganzen Zu- 
sammenhang der Kultur, gemäss dem Lockeschen Ge- 
setz^ von der Entwicklung der Reflexion meist so kon- 
struiert, dass der jugendliche Mensch zuerst die Aussen- 
welt betrachtet und dann den intellektuellen Kosmos 
entdeckt habe. Joel urteilt zu freundlich darüber, wenn 
er diese Scheidung in seinem schönen Rektoratsprogramm : 
„Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geist der 
Mystik" als didaktisch rechtfertigt. Sie ist der naive Rück- 
stand unhistorischer Betrachtungsweise und, wenn die Be- 
trachtung der Vergangenheit uns heute vor allem geschicht- 
liches Verstehen lehren soll, so undidaktisch wie möglich*. 

Schon in den orphischen Lehren ist der Standpunkt 
vorhanden, der von den Geschehnissen der Innenwelt 
ausgeht. Die geheimnisvolle Grösse des Anaximander, 



^ Locke, Essay II 1 8. 

* Wie ich denn überhaupt den Glauben an den pädago- 
gischen Wert der griechischen Philosophie als Einführung in 
das Verständnis phüosophischer Probleme nicht teilen kann. Auch 
hier steht im Hintergrund noch der alte Irrtum von der Einfachheit 
des griechischen Geistes oder gar von einer abstrakten Abfolge 
der Probleme. Die Fetzen des Materials, mit denen man arbeiten 
muss, die ganz andern Bedingungen, unter denen hier die Ent- 
wicklung vor sich ging, machen ein Begreifen unendlich schwierig. 
Wer Botanik lernen will, beginnt nicht mit der Paläontologie. 
Hier hilft nur eine vergleichende Wissenschaft, und die setzt die 
relative Kenntnis des Nächsten immer voraus. 



; — 12 — 

Pythagoras, HerakUt und Pannenides wurzelt darin, wie 
sie das Lebensziel eingefügt haben in ihr "Weltbegreifen. 
Andrerseits gehört Demokrit nach der Struktur seines 
Systems nicht mehr unter die Vorsokratiker, wohin man 
ihn nach dem Schema meist gestellt hat. Wem es nicht 
auf eine säuberliche Dialektik ankommt, und wem das 
Nebeneinander menschlichen Geistesreichtums auch hier 
überall sichtbar werden soll, wird sich für ein Verständ- 
nis der Entwicklung und ihrer Einheit ein Prinzip suchen 
müssen, das tiefer in die Tatsachen hineinsehen lässt. 
Von den Gesichtspunkten, die hier möglich sind, er- 
scheint mir für meine Zwecke der entscheidende: das 
allmähliche Wachsen der Helle des Bewusst- 
seins. Das Fortschreiten vom mythischen Verstehen 
durch die Metaphysik zur positiven Erfahrungswissen- 
schaft, wie es durch das Dreistadiengesetz ausgedrückt 
wird, das Dilthey auch für die griechische Geschichte 
nachgewiesen hat, ist nur ein Schnitt durch einen viel 
allgemeineren, das ganze seelische Leben durchziehenden, 
kontinuierlichen Prozess der Aufklärung^, in dessen Fort- 
gang sich die drei Stufen aufweisen lassen: die Zeit, in 
welcher der Mensch nur religiös apperzipiert und Trieb 
und Assoziation herrschen, die Periode der einfachen, 
aber totalen rationalen, und schliesslich der historischen 



* Joel a. a. 0. S. 73 wendet sich gegen die Auffassung der 
Geschichte als „gradlinigen Fortschritts zur Aufklärung^. In der 
Entwicklung, wie ich sie mir vorstelle, hat auch der religiöse In- 
dividualismus jener Tage, wenn man die Dinge, wie Joe! selber, ver- 
gleichend betrachtet, seine gesetzmässige Stelle. Die Aufgabe ist, 
zu zeigen, welchen Anteil die Intellektualität an diesen Erschei- 
nungen hat, erzeugend und zerstörend. G-erade der Schluss seines 
Prograrames (S. 94) ist dafür beweisend. 



— 13 — 

Reflexion. Von allen Entwicklungen, die wir kennen, 
zeigt keine das langsame Herausarbeiten des logisch- 
verständigen Denkens aus mythisch unbewusstem Vor- 
stellen, das Zergliedern und Auflichten des geistigen 
Inhalts, die Ablösung und Diflferenzierung der einzelnen 
seelischen Kräfte aus dem einheitlichen Grunde und ihre 
Durchsetzung mit den rationalen !E^lementen, schliesslich 
das Entstehen des historischen Bewusstseins so organisch, 
wie die griechische, und diese wird darum für ein ver- 
gleichendes Studium der Funktion der Intellektualität im 
„Haushalt des geistigen Lebens" und eine beschreibende 
Psychologie von der grössten Wichtigkeit sein. Eine 
vollständige Erkenntnis dieses Prozesses, der Bedeutung 
und Wirkung des Verstandes, auf der breitesten histo- 
rischen Grundlage scheint mir eine der Hauptaufgaben 
der Gegenwart^: die endgültige Lösung eines Kampfes, 
in dem zuletzt noch Nietzsche stand; ihm symbolisierte 
sich damals die Reflexion in der Gestalt des Sokrates. 
Einstweilen machen sich für die Wertung der Ver- 
nunft zwei Massstäbe geltend. So fruchtbar das leise 
steigende Aufleuchten des lumen naturale für die bil- 
denden Mächte des Menschen ist, solange es gleichsam 
nur von innen strahlt, z. B. in der Kunst wirksam ist 
als Verknüpfung, Beziehung, Dringen auf Ganzheit und 
Einheit, Klarheit und Motivierung etc. — mit dem Augen- 
blick der totalen Reflexion, wann die Intelligenz heraus- 
tritt und von aussen schaut, beginnt der zerstörende Ein- 
fluss auf alle schöpferischen Funktionen. Kraftvolles 
Handdn, religiöse Energie, künstlerische Produktion jeder 

* Vgl. meinen Aufsatz über A. Feuerbach in Westermanns 
Monatsheften, August 1904. 



— 14 — 

Art vertragen nach einem inneren Gesetz diese ewige 
Selbstbesichtigung nicht. Mit diesem Gefühl hatten Sturm 
und Drang, Herder vor allem und Jakobi, dann Goethe 
und Schiller, die Romantik und Nietzsche der Aufklärung 
gegenüber gestanden und von hier aus die griechische 
Existenz, die sie davon frei glaubten, beneidet. Und doch 
begann damals für sie erst noch die historische Brcflexion, 
der das junge Leben wieder unterlag, um zu höheren Zielen 
und vollendeter Freiheit zu gelangen. Jene Wertung der 
Brationalität ist aber in vielen Darstellungen noch wirksam 
bei der Beurteilung der Sophisten, des Euripides, der Hin- 
richtung des Sokrates, in der Vernachlässigung der grie- 
chischen Wissenschaft, vor allem der späteren Zeit. 

Der positive Gehalt dagegen des Wachstums der 
Vemiiinft, den für die moderne Geschichte der Positivis- 
mus zuerst gesehen hat, ist die Erringung der Autonomie 
des Menschen und seiner Gewalt über das Dasein, die 
Beweglichkeit und der Reichtum seines Lebens, Sicher- 
heit und Fortschritt, wie ihn das stets progressive Prin- 
zip des Wissens gewährt. 

Diesen Wandel von naivem zu bewusstem Dasein, 
Handeln und Schaffen, wie er in Griechenland auf allen 
Seiten vor sich ging, weiter zu verfolgen, ist hier nicht 
nötig, er kann nur angedeutet werden. Am sichtbarsten 
aufbewahrt ist er für uns in der Poesie, in ihrer Sprache 
und Form wie in ihrem Inhalt. Die wunderbare Kom- 
position der grossen homerischen Epen war die reife 
Frucht der immanenten Reflexion, aber schon spürt man 
in manchen Versen, vor allem in dem hier und da 
ariostisch und cervantisch aufblitzenden Humor, dass das 
Gefühl vorhanden ist, einer abgelebten Form des Daseins 



— 15 — 

gegenüberzustdien. In der Parodie schafft sich dies 
Gefühl, wie so oft, seine eigene Form. Mit offenem 
Visier tritt die neue Geistesverfassung aber auf in jenen 
Versen der Theogonie: 

„Wir verstehen eine Lüge der Wirklichkeit gieichzugestalten, 
Doch wir verstehen auch, wenn wir nur wollen, die Wahrheit zu 
künden.** 

Eine Dichtung, die so beginnt, ist didaktisch, ist irgend- 
wie auf Höherbildung gerichtet — „ein Buch zur Er- 
ziehung, zur Stärkung des sittlichen Gefühls**^ — . 
Das Subjekt spricht hier und seine Kritik. Die tiefe 
und reine ethische Kraft, die die Menschen der Ilias und 
Odyssee trotz der wilden Affekte so selbstverständlich 
beherrscht, und der die eigene kindliche Interpretation 
noch so gar nicht gerecht werden kann, ist verschwunden, 
und die moralische Reflexion will das Leben leiten. Es 
kommt die Zeit der Fabeln, Gnomen, des Lehrgedichts 
und der subjektiven Lyrik. Ideale, abstrakte Zusammen- 
hänge, die der Wirklichkeit entgegengehalten werden, 
machen den Gehalt dieser Dichtung aus; der Affekt, diese 
rationalen Aufgaben zu verwirklichen, an diesen Be- 
ziehungen sich zu orientieren, gibt die poetische Gewalt. 
Die grossen Dramen sind zugleich die Schlachtfelder der 
neuen Zeit, in denen die religiös ethische Entwicklung des 
Volkes vor sich geht, ähnlich wie bei uns die Dichter, vor 
allen Lessing und Goethe, in ihren Werken die neue Le- 
bensanschauung schufen. Die Kritik des Sagenstoffes aus 
dem moralisch rationalen Gesichtspunkt macht sich schon 
in dem Chorgesang des Stesichorus bemerkbar ^ Die 

> Wilamowitz, Gr. Trag. I 18. 

' Diagoras von Melos zeigt die Entwicklung ganz scharf, in- 



— 16 — 

bedeutendsten Dramen von Aeschylos und Sophokles 
versteht man nur, wenn man sich die Arbeit auf einen 
idealen transzendenten Zusammenhang bewusst hält, die 
hier immer am Werk ist. „In der Orestie hat der Dichter 
einen so unverhältnismässig breiten Raum der Betrach- 
tung über göttliche und menschliche Dinge gewidmet, 
dass man sieht, er hat die Geschichte als Exempel für 
seineLehre hierüber dramatisiert." (Wilamowitz, Griech. 
Trag. I 13.) In der Antigone wird sich der Mensch 
seiner Autonomie wunderbar ahnend bewusst. Und wie 
steigert sich das bei Euripides, in dem sich die Poesie 
der Leidenschaft und die Prosa des Denkens so geheim- 
nisvoll begegnen, wie in der Komödie des Aristophanes, 
in der das neue geschichtliche Gefühl jene Dämmer- 
stimmung erzeugt. Bis dann die Rationalität Sieger ist. 
Während für die poetische Form nur der Naturalismus 
als neuer künstlerischer Ausdruck des Verstandes übrig 
bleibt und schliesslich die historische Reflexion mit der 
Nachahmung einsetzt und das Idyll hervorbringt, beginnt 
die grosse Prosakunst in der Geschichtschreibung des 
Herodot und Thukydides, der Rhetorik des Gorgias und 
des Isokrates — für deren Verständnis man an die 
humanistische Literatur und die theologische Beredsam- 
keit im 17. und 18. Jahrhundert denke — und der philo- 
sophischen Dialogliteratur, die auch bei uns ihr Analogen 
hat, zu welchen Formen dann der didaktische Roman mit 
der Cyropädie tritt. Parallel geht damit die Auffassung 
vom Dichter als dem „Lehrer" des Volks, poetische 

dem er die Existenz der Götter, deren Macht er einst selbst yer- 
herrlicht hatte, in seinen „vom Turm stürzenden Reden** leugnete, 
weil er keine Gerechtigkeit im Weltlauf zu sehen vermochte. 



— 17 — 

Kritik, bis Sokrates kommt und die Dichter auf ihr 
Wissen prüft (Apologie) und ihnen beweist, dass es das- 
selbe sei, gute Komödien und gute Tragödien hervor- 
zubringen. Damit ist der intellektuelle Gehalt als das 
einzige von Interesse herausgehoben. 

Das Organische dieses Prozesses beweisen am besten 
die Dramen des Euripides, in denen bei aller Kraft 
der Reflexion die Substanz der mythischen Eeligiosität 
und die elementare Gewalt der Leidenschaften noch in 
mächtiger Aktion sind, ein Zustand, der für uns nicht 
verständlicher aber deutlicher wird, wenn wir an die 
Mythen und die Kunstform der platonischen Philosophie 
und an das Dämonium und den Traumglauben ^ des 
Sokrates denken. Dass die Wirkung des Verstandes 
auf die Kunst auch schon damals als zerreissend emp- 
funden wurde, zeigt der Hass des Aristophanes auf 
Sokrates und Euripides, besonders jener Vers in den 
Fröschen, den Nietzsche sich in seine Papiere schrieb: 

Heil, wer nicht an Sokrates' 

Seite sitzend schwitzt und schwatzt, 

Sich um die Kunst der Musen lügt 

Und sich des Schönsten, was die Tragödie 

Je geschaffen, selbst beraubt! 

Von den beiden grössten Schülern des Sokrates inter- 
pretierte der eine, Antisthenes, den Homer allegorisch*, 
und der andere, Plato, dem von seinem , radikalen, 
rational-moralischen Gesichtspunkt aus das seltsame 
Entwicklungsgebilde der griechischen Dichtung mit sei- 
ner widerspruchsvollen Mischung von Mythos und Re- 



' Vgl. Kriton und Phädon. 

* Vor ihm schon Anaxagoras und Metrodor und Prodikos. 
Nohl, Sokrates und die Ethik. 2 



— 18 — 

flexion, Ueberlieferung und Ideal nur verderblich er- 
scheinen konnte, verwarf sie überhaupt; trotzdem er 
selbst, wie Antisthenes, das Unproduktive des Ver- 
standes und das Herausströmen echter Poesie aus den 
unbewussten Tiefen der Seele wieder anerkannte (Phä- 
drus 245, Jon 533/534), Aristoteles erscheint dann auch 
hier als der Totengräber der antiken Produktion. 

Die bildende Kunst ^ vor allem die Bildhauerei, 
ist diesem Schicksal der intellektuellen Zersetzung erst 
viel später unterlegen, weil sie ein Handwerk war, die 
„schweigsame"^ Arbeit des Banausen. Das dilettantische 
AUeskönnen und Beschwatzen des freien Griechen blieb 
der schmutzigen Werkstatt fem, und der bildende 
Künstler ist immer derjenige gewesen, dem das Wort 
und das Gerede über seine Arbeit, solange es irgend 
ging, am fernsten gelegen hat. So hat sich auch in 
Griechenland relativ spät erst und sparsam die Theorie 
ihrer bemächtigt, in der Tradition der Schulen wächst 
ihr Können langsam und organisch weiter. Man muss 
ihre Entwicklung stets besonders betrachten, wie bei uns 
die der Musik ^, die aus ähnlichen Gründen fast zwei 
Jahrhunderte lang der Kritik entging. Sie hat naiv 
aus dem Mythus heraus künstlerisch echt und frei 
schaffen können zu einer Zeit, wo sonst das Wissen 
alles zersetzte und regierte. Ganz so unbehelligt von 
den Philosophen, wie Burckhardt es darstellt, blieb sie 



» Burckhardt IH 51, IV 135 ff., 398 ff. 

■ Goi^as 450. 

' Die griechische Musik ist früh von der Theorie gefasst 
worden, doch sind die Verhältnisse hier so schwierig, dass ich jetzt 
nicht darauf eingehen kann. 



— 19 — 

allerdings nicht. In Xenophons Memorabilien finden sich 
Gespräche des Sokrates (III 10) mit den Malern und Bild- 
hauern, und auch hier sucht er ihnen an Stelle naiven 
Produzierens und Bildens an der körperlichen Erschei- 
nung, vor allem der Binger, Läufer, Faustkämpfer und 
Pankratiasten die Augen zu öffnen für das wahre Ziel 
einer moralischen und seelischen charakteristischen Kunst. 
Die Intellektualität will sich und ihre Ideale sehen. Im 
Hippias d. Gr. und Mem. III 8 erscheint eine Aesthetik, 
die die Formenschönheit aus der Erfüllung des Zweckes 
interpretiert. Aber das sokratische Interesse scheint 
vereinzelt dazustehen — war er doch selbst ursprüng- 
lich wie sein Vater Bildhauer gewesen und sein Verhält- 
nis zur Technik des Handwerks ein ganz besonderes ihm 
eigentümliches. Auf jeden Fall blieben diese Ansätze 
zunächst ohne Wirkung. 

Die Durchsetzung der Intellektualität im wirt- 
schaftlichen und politischen Leben ^ und die da- 
durch bedingte Entwicklung hat Pöhlmann dargestellt. 
Von grosser Bedeutung ist hier die bewusste Schöpfung 
der Kolonien. Die wichtigsten Stufen sind die Be- 
seitigung der Geburtsaristokratie, das Entstehen der 
Geldwirtschaft, die Herstellung der vollständigen Demo- 
kratie — „alle Herrschaft der Reflexion im Staatswesen 
drängt über kurz oder lang auf Gleichheit der Bürger 
im weitesten Umfang**^ — schliesslich das Ideal einer 
Bildungsaristokratie und eines Beamtenstaats, in dem 
das Leben von dem Wissen, der rationalen Gestaltung, 

' Pöhlmann, Geschichte des antiken Kommunismus. So- 
krates und sein Volk S. 25. Ed. Meyer, Gesch. d. A. IV 111. 
» Burckhardt I 217. 



_ 20 — 

seine Ordnung und Sicherheit gewinnt, wie es Sokrates 
verkündete und seine Schüler nach den verschiedenen 
Möglichkeiten theoretisch darzustellen suchten. Damit 
beginnt dann zugleich das Sich-Zurückziehen der Philo- 
sophen aus der öffentlichen Mitarbeit an den Aufgaben 
des Staats. An Stelle nationalen Bewusstseins, wie es 
bei Plato und Aristoteles noch vollständig vorhanden 
ist, entsteht der Kosmopolitismus, und die aufgeklärte 
Monarchie nimmt die Zügel in die Hand. 

Auf die Sitte und die sittUche instinktive Gefühls- 
weise wirkt die Eeflexion seit den Tagen des Hesiod. 
Das Lebensziel ändert sich, die Gewalt der Affekte wird 
gebrochen. Das Ideal der Sophrosyne und des Mitt- 
leren zwischen zwei Extremen, des [tTjS^v ä^av, wie es die 
Erfahrung immer wieder lehrt, wird die Grundlage der 
Ethik. Die Erkenntnis der Abhängigkeit der Sitte von 
den Lebensverhältnissen entsteht und wirkt bestimmend 
an Stelle des triebhaften und gewohnheitsmässigen Han- 
delns, das Bewusstsein des ütilitarischen wächst steigend K 
Schliesslich setzt die ethische Theorie ein. Neben die 
„wirkliche Ethik, welche die besseren tatsächlichen Züge 
des Volkslebens enthält, treten die Postulate der Philo- 
sophen", die Kritik der Sitte zur Befreiung des Indivi- 
duums aus ihrer Fessel, und die rationale Begründung 
der sittlichen Gebote. Auf Grund von abstrakten Be- 
griffen, deren wirksamster die „Natur" gegenüber der 
Satzung und Willkür ist, wird das Leben konstruiert, 
wo denn die verschiedenen Möglichkeiten gleichwertig 



* Vgl. auch Ed. Meyer a. a. 0. IV 112. Am deutlichsten 
ist hier die . Schrift über den Staat der Athener und nur mit 
Macchiavellis Principe zu vergleichen. 



— 21 — 

auftreten« Auch hier bedeutet Sokrates dann eine neue 
Stufe. Zu welcher Verirrung aber des ethischen Ge- 
fühls die gedankenmässige Zersetzung des Lebens, die 
„Meinungen und Systeme^, in Griechenland führten, zumal 
hier eine so allgemeine religiöse Vergeltungslehre wie bei 
uns, die in die rationale üeberlegung mit eingegangen 
wäre, nicht vorhanden war, sieht man bei Thukydides H 53 
und m 82, 83 oder auch bei Aristophanes in den Wolken. 

Wie „die immer mächtiger wachsende Kritik, die 
alle bestehenden Verhältnisse auf ihre Berechtigung 
prüfte, auch die Stellung der Frau in ihren Berdch zog**, 
lese man bei Ed. Meyer, Gesch. d. A. IV 102, und 
Ivo Bruns, Frauenemanzipation in Athen. Auch hier 
erscheint der abstrakte Begriff des Menschen und seiner 
abstrakten apetT] zuerst in dem Denken des Sokrates 
(Xen. Symp. und Arist. Polit. I 13, 1216 a 21). 

Schliesslich die Wissenschaft selber, der eigent- 
liche Träger der Aufklärung. Die allmähliche Loslösung 
der Philosophie aus religiös-ethischem Erleben der Welt 
und ihres Sinnes, die aUmähUche Umsetzung des Mythos 
in Metaphysik hat Dilthey in seiner Einleitung nach- 
gewiesen. ParaDel geht ihr die Kritik der mythischen 
Eeligiosität in Xenophanes, Heraklit, Aeschylos, So- 
phokles und Euripides. Diese Kämpfe waren der Ver- 
such, eine neue Substanz der Religiosität zu erringen, 
' wie es in Indien Buddha, bei den Juden den Propheten 
und bei uns der Eeformation gelang. Und aus der 
Orestie und der Antigene redet die lebendige Gewalt 
des reinen hohen Glaubens K Aber mit der Erkenntnis- 



* Ed. Meyer a. a. 0. IV 110, 117 betont zu selir die blosse 
Vermenschlichung. Das Endergebnis war es allerdings. 



-^ 22 — 

tkeorie des Protagoras setzt das Postulat eines rationalen 
Wissens von den Göttern ein, Anaxagoras begründet 
den ^»Deismus^ als wissenschaftliche Hypothese; das 
neue wissenschaftliche Weltbild erkennt man am besten 
aus den Wolken. In der Schule des Sokrates vollendet 
sich die grosse religiöse Bewegung in einer Q-ottes- 
erkenntnis aus der Zweckmässigkeit der Welt, die ihren 
Sinn in einem moralischen Ziel hat, und die verschiedenen 
Formen der Metaphysik suchen auf der Grundlage dieser 
teleologischen Weltauffassung das religiöse Ideal nach 
den verschiedenen Möglichkeiten begrifflich darzustellen. 
Damit ist die Freiheit des Subjekts gewonnen, zugleich 
aber das religiöse Bewusstsein, das aus der Totalität des 
Daseins sich erhebt, abstrakten Beziehungen und ihren 
Gegensätzlichkeiten überantwortet, deren Ergebnis die 
Skepsis ist. Und dieser Prozess vollzog sich auf dem 
Grunde einer unaufhörlich wachsenden Erfahrungserkennt- 
nis, wie sie aus dem praktischen Leben entstand, in 
Astronomie und Mathematik, Medizin, geographischer 
und historischer Kunde ^ und Kritik sich entwickelte. 

So ging langsam die Umwandlung des unbewussten, 
unwillkürlichen Lebens in bewusste Ueberlegung, rational 
gewollte Tätigkeit vor sich, üeberall wurden die ewigen 
Tatsachen zu Problemen, die uralten Antworten zu 
Fragen^. Ideale tauchen auf, an denen jede Gegenwart 
gemessen wird, Kritik an allen Enden. Mit dem 5. Jahr- 
hundert erreicht das Verlangen nach Zweckbewusstsein, 
nach verständiger Gewalt über dieses Dasein seinen ersten 
Höhepunkt. Auf allen Gebieten wird kodifiziert Das 

» Vgl. Ed. Meyer a. a. 0. IV 108 f. 

« Vgl. öomperz I 810f. Pöhlmann a. a. 0. S. 6—37. 



— 23 — 

Streben Bach Eeformation ist allerwärts. Jede Praxis 
soll vemunftgemässen Einsichten untergeordnet werden, 
Ueberall sucht man nach den festen Normen. Eine 
breite Literatur von Lehrbüchern entsteht, Sprachkritik 
als das charakteristische Merkmal der Aufklärung. Aa 
jeder Stelle Absicht und gewollte Erfindung, anstatt 
naiven Schaffens. ^Wie ein Symbol", sagt Gomperz 
sehr schön S erscheinen einem die Städteanlagen des 
Hippodamus von Milet in jenen Tagen^ mit ihren recht* 
winkligen Strassen. 

In dieser Entwicklung bedeutet Sokrates die Voll- 
endung. In ihm bemächtigt sich die Philosophie dieser 
Aufklärung, gemäss ihrer Funktion, den eigensten Willen 
einer Zeit durchsichtig zu machen. Und weil er zum 
erstenmal fest und klar den Glauben aussprach, dass 
die Sicherheit und der Wert des Lebens abhängig ist 
von der erkannten Wahrheit (w? i^d) oo (lövov vöv aXXa 
xai ael toioutoc;, olog tcov Ijtcov (tigSevl JlXXij) ireidsa&at i] tcp 
Xö7(p, 8^ av [tot XoYtCo{i.^v(|) ßsKttatoc; f aivTjtai ^\ ein Glauben, 
in dem er sein Leben führte und für den er starb, ist 
er der Nachwelt immer die Verkörperung des philoso- 
phischen Eros gewesen. Er geht darauf aus, definitiv 
jede unbewusste Tätigkeit, Meinung, Schätzung zu ver- 
ständigem Bewusstsein zu erheben, absolute Helle hier 
herzustellen, in der nichts vor der Kritik und der Unter- 
suchung verborgen bleibt. Er sucht eine Lebenstechnik, 
die völlige Durchführung der Kationalität im persönlichen 
wie im politischen Dasein. Alles soll klar und deut- 

* üeber rationalen Städtebau vgl. Burckhardt, Gr. Kultur- 
gesch. IV 75. 

8 Kriton 46 B. 



— 24 — 

lieh sein. In diesem Sinne trat er den Handwerkern, 
Dichtem und Politikern seiner Stadt entgegen, wie es 
die Apologie und jeder Satz der sokratischen Literatur 
bezeugt. So gewaltig die Gährung der Zeit in ihnen 
allen arbeitet, ist er ihnen doch allen im Bewusstsein 
der Notwendigkeit einer restlosen Aufklärung überlegen. 
So kommt er zu seiner merkwürdigen Methode des 
rpOTp^Tcsiv^ und icpoSiSd(3Xsiv ^, mit der er zunächst die 
selbstzufriedene Gewissheit des natürlichen Menschen 
zerstörte. Als Wahnsinnige erschienen sie ihm, wie sie 
alle trotz ihres gescheiten Gehabens und alleswissenden 
imd beredenden Dünkels wie blind umherlaufen, und es 
entsteht ihm die wundervolle Ironie als der Ausdruck 
seines neuen Lebensgefühls. Auf dieser radikalen Durch- 
setzung des Verstandes beruht nicht zum geringsten seine 
ungeheure Macht über die Jünglinge, einen Alkibiades, 
Kritias ® und Euthydem, die ihn in dieser Zeit der Dis- 
putation, in der wahr erscheint, was im Wettkampf siegt, 
stets überlegen sahen. Der Einfluss eines philosophischen 
Lehrers beruht vor allem auf den Machtmitteln, die er 
seinen Jüngern für das Leben mitzugeben vermag. Dass 
sie diese stets in seinem Sinne verwenden, ist unwahr- 
scheinlich, auch die sokratischen Schüler müssen unaus- 
stehlich gewesen sein mit ihrer Sucht, alles als proble- 
matisch zu erweisen und mit den gefährlichen Waffen 
der Dialektik alle Werte zu verdrehen, die den meisten 
doch noch heilig waren, wie Aristophanes einen von 
ihnen, wenn auch gehässig karikiert, in seinem Phei- 
dippides vonührt, und Alkibiades so naseweis bei Xeno- 



* Mem. IV 2. « Frösche 476. » Mem. I 2 16. 



— 26 — 

phon dem grossen Perikles gegenüber erscheint; selbst in 
der Apologie ist das sichtbar. 

. Die höchste Steigerung aber empfängt die Zeit in 
dem positiven Ideal, das dem Sokrates folgerichtig 
aus der ganzen Bewegung hervorging. Wohin er sah, 
bemerkte er das Gelingen der Tätigkeit abhängig von 
der deutlichen Einsicht in die Aufgabe und die not- 
wendigen Mittel. Das Wissen ist so allein der Garant 
des Könnens, auf ihm ruht die Festigkeit, die Sicherheit 
und das Glück des Lebens, der Wert und die Macht 
des Individuums. Der Wissende ist Herrscher und König 
in dem, was er weiss. Er regiert, wie im Schiff der 
Steuermann und der Arzt über den Kranken. Unab- 
hängig zunächst von jedem Ethos, erscheint ihm das 
die Notwendigkeit, der sich jedes Dasein unterwerfen 
muss. Von dem Wissen aus muss die Ordnung des 
Staates erfolgen, wie jedes Handwerk von der Einsicht 
seine Vollkommenheit erhält. Berufswissen ist die For- 
derung, die von hier aus an die Erzieher der Zeit ge- 
richtet wird; die Bedingung des Sachverständnisses die 
unwiderlegliche Wahrheit, mit der er jedem Jüngling, 
der ihm begegnete, die Augen öffnet. 

Ist aber Äpein] die Eigenschaft des Menschen, die 
ihn beföhigt, seine naturgegebene Aufgabe zu erfüllen, 
seinen Lebenszweck zu erreichen, und ist die Aufklärung 
die Bedingung jedes erfolgreichen Strebens, so liegt die 
apsTT] des Mannes eben in ihr: „Tugend ist Wissen**, und 
das grösste Uebel des Menschen ist „der Dünkel zu 
wissen, was man nicht weiss". 



26 



in. 

Pädagogik und Rhetorik. 

Diejenige Technik des Lebens, in der die Energie 
der Aufklärung naturgemäss am stärksten auf bewusste 
Methode gerichtet sein muss, ist die Pädagogik. In der 
Erziehung und Höherbildung der Jugend offenbart sich 
ja ihre ganze Kraft am deutlichsten, hier muss sich 
immer ihr Interesse konzentrieren. Die Schätzung der 
Kegel und der Bewusstheit hängt eng zusammen mit 
dem Glauben, alles erlernen zu können. Können und 
Bildung, Wissen und Gelehrsamkeit erscheinen als Syno- 
nyma. Die neue Lebendigkeit der Zeit hatte sich da- 
mals ihre Organe in den Sophisten geschaffen, die sich 
anheischig machen, dem jungen Griechen zu der vollen- 
deten Tüchtigkeit zu verhelfen, die dem neuen Ideal 
entspricht. Das Ziel des modernen Menschen ist nicht 
mehr der Sieg im musisch-gymnastischen Agon, den 
schon Xenophanes verhöhnt, sondern die Fähigkeit des 
Auftretens auf dem politischen Kampfplatz, geistige Ge- 
wandtheit und Gewalt So verschieden die Interessen 
der Sophisten sind, was sie schliesslich alle versprechen 
zu lehren, ist die intellektuelle Geschicklichkeit, die den 
Hauptbestandteil der neuen apexn] ausmacht und deren 
Ausdruck die Bedefahigkeit ist. Ueber alles reden zu 
können, immer neues und in allen Formen reden zu 
können, ist der Triumph dieser Männer und die Sehnsucht 
der Jugend, die sich begeistert um sie versammelt. Die 
künstlerisch-spielerische Freude der Griechen am Wett- 
kampf, die Buhmsucht des Individuums findet hier den 



— 27 — 

neuen Schauplatz, da der alte Agen nicht mehr be- 
friedigt. Die Gymnasien veröden, weil die Jünglinge 
sich um die disputierenden Rhetoren drängen, das Ge- 
schwätz dringt in jede Palästra. Und immer ist der 
letzte Zweck, der Stärkere zu sein. Wie tief dies Be- 
dürfnis im Griechen lag, sieht man schon aus den 
Worten, mit denen Parmenides seine Darstellung der 
Scheinwelt einleitet: a>c ob (injicots tic Qs ßpoTö^v Y^coftig 
irapaXdooig^ Der reale Ernst dieses gefahrlichen neuen 
Könnens lag aber darin, dass es in dieser Zeit der voll- 
kommensten Oefifentlichkeit die Lebensstellung gab. „Bil- 
dung ist Macht", und ihre Gewalt besteht im üeberreden. 
Sokrates ist den Lehren dieser neuen Technik ent- 
gegengetreten, und oft genug hat man hierin eine ethische 
Opposition gefunden. Grob moralisch kann sie nicht 
gewesen sein. Man hat seit Grote die sittliche Höhe 
der Sophisten von allen Seiten beweisen wollen, und 
für die älteren von ihnen gilt das ja auch ganz ge^viss, 
wenigstens war das altbürgerliche Ethos noch in ihnen 
wirksam, obwohl ja die Behandlung moralischer Pro- 
bleme und namentlich die Entdeckung der Relativität der 
Werte, wie sie in der Schule des Heraklit vorhanden 
war, bei unendlich vielen eine Lockerung der sittlichen 
Gebundenheit zur Folge gehabt haben wird. Ganz halt- 
los kann die Komödie des Aristophanes nicht gewesen 
sein, die, 424 aufgeführt, eine längere Entwicklung vor- 
aussetzt. Aber gerade sie zeigt auch, dass es Sokrates 
mit seinen Schülern bisweilen ähnlich gegangen sein 
wird, und dass sein Kampf mit den Sophisten sowie 

* Di eis, Ueber die ältesten Philosophenschulen. In Zellers 
Abhandlungen S. 249 f. 



— 28 — 

sein ganzes Auftreten unmöglich ein so äusserlich ethisches 
gewesen ist, wie es in der Apologie erscheint. Wie 
hätte Aristopbanes die Gegner zusammenwerfen können, 
da es doch keinen Gegensatz gibt, der leidenschaftlicher 
und offenkundiger wäre als der eines Moralpredigers zur 
Sittenlosigkeit. Aber die Darstellungen ihrer Dispute, 
die wir haben, wissen davon auch nichts. Ein ethischer 
Gegensatz erzeugt eine andere künstlerische Form als 
diesen mimischen Dialog, diese philosophische Komödie; 
der Kontrast dieser Szenen, wenigstens in den früheren 
Dialogen, ist immer der intellektuelle, den die königliche 
Ironie geniesst. Und schliesslich: von allen Sätzen des 
Sokrates, die wir kennen, ist der sichersten einer der von 
der ünfreiwilligkeit des Bösen, eine üeberzeugung, die 
seiner Polemik stets die milde Schönheit der Toleranz 
gab, deren erster Verkündiger er gewesen ist — auch 
hier die Vollendung der Aufklärung mit ihrem neuen 
ethischen Gedanken, der Duldsamkeit des Verstehens 
— „sie wissen nicht, was sie tun** — , die dann gipfelt in 
dem historischen Begreifen, vor dem auch die Toleranz 
des selbstsicheren, abstrakten Verstandes noch als eine 
Vergewaltigung des Lebens erscheint. 

Auch diesen Männern gegenüber hob Sokrates die 
Fackel des Bewusstseins um eine Faust höher und 
stellte den ganzen sophistischen Beruf selber in Frage, 
indem er seinen Vertretern das tiefste Problem der 
Aufklärung vorlegte: Gibt es eine Technik der Erziehung 
und welches sind ihre Bedingungen? Ist die Tugend 
lehrbar? Wie weit ist das Können übermittelbar? 

Die Frage war nicht so absolut neu; von den Dich- 
tern Pindar und Theognis schon wird sie aufgeworfen. 



— 29 — 

Das |i§YioToy i^ fhoi^ des Euripides war doch schliess- 
lich die Ueberzeugung jener genialen Zeit. Die neue 
Bildung musste sie aber von neuem beantworten. Und 
hier zeigt Sokrates, dass die Lebensbedingung und Vor- 
aussetzung des neuen Berufs das Wissen ist. Denn nur 
ein Wissen ist lehrbar. In der bei allen Variationen 
grossartigen Monotonie seiner Gespräche kehrt dieser 
Satz von der Tugend, die nur lehrbar, wenn sie ein 
Wissen ist, immer wieder. Jedes Handwerk hat sein 
Wissen, also seinen Meister, auch die Gymnastik, die 
Kunst, die Medizin. Jedes Pferd findet seinen sach- 
verständigen Bereiter, nur für das, was dem Menschen 
am wichtigsten ist, gibt es keinen Lehrer, denn es gibt 
davon kein Wissen. Der Zusammenhang des Lebens 
fordert die Möglichkeit, das Können zu übermitteln, und 
doch lehrt die seltsame Erscheinung der geringen Söhne 
berühmter Väter die ZuföUigkeit jeder Grösse. Mit 
griechischer Grausamkeit wird das an den Söhnen des 
Perikles exemplifiziert. „Es gibt noch kein Wissen der apetT] 
und der 6&Sai|j.ovia und so halte ich die Tugend nicht für 
lehrbar**, das ist der immer wiederkehrende Schluss K 



^ Vgl. Apologie 20 und vor allem den Protagoras, wo der 
Zusammenhang von Wissen und Lehrbarkeit Voraussetzung und 
Ziel der Untersuchung ist. Ebenso Mem. IV 6 i : Sokrates glaubte 
nämlich, dass „wer einen richtigen Begriff von jedem Dinge habe, dies 
auch andern erklären könne, wenn aber der Begriff fehle, da sei es 
kein Wunder, wenn einer sich und andere täusche**. Femer 1 1 7 9, 
2 19 für die Synonymität von wissbar und lehrbar. Dazu kommt 
eine Stelle in der endemischen Ethik, bei der an die sokratische 
Philosophie gedacht ist: 1214a 18: irpüjtov hh oxsictsov ev xtvt xh eh 
C'vjv xal TCCüC xf/jTOV, itoxepov <pü08t . . . tj 8ta [Jia0-r)08(u(, o»? oüoir]? 
iTC'.offjfJLir]? T'.vö? T-^^ e&SaifJLOvia«;. Vgl. auch Met. 981b 7: SXw? xs 
aY][i8lov xou elSoxo^ x6 SuvaoO'ac SiSaaxetv laxlv xal hiä xoöxo x'v]v 



— 30 — 

So wird das Wissen auch die Bedingung seines eige- 
nen LebensberufeSy der ihn mit ursprünglicher Gewalt auf 
die Bildung junger Menschen wies. Denn mögen auch 
die Darstellungen eines Plato und Xenophon-Antisthenes 
von der ethisch*pädagogischen Art dieser Männer ihre 
Färbung haben, sie selber war doch nur der Wider- 
schein jener ganz einzigen Aeusserung des Vermögens 
der Seelenleitung, das ihnen in ihrem Lehrer so ge- 
heimnisvoll unter der tiefsinnig spielenden Maske der 
liebe entgegengetreten war^. 

Noch klarer erscheint der Gegensatz zwischen ihm 
und den Sophisten aber, wenn man die Methode ihrer 
Erziehung vergleicht. Euer wird zugleich der Grund 
sichtbar, von dem die Form des sokratischen Wissens 
bedingt ist. 

Die Seele der neuen Bildung war die Shetorik, ihr 
Ziel und ihr Mittel das irei^siv, und wie in der foren- 
sischen, politischen und epideiktischen Beredsamkeit 
spitzt sich auch in der Pädagogik die Methodenfrage 
dahin zu: Welches sind die Mittel der Ueberzeugung? 
Der Phädrus zeigt, wie weit die Sophisten damals schon 
in die Bedingungen ihrer Technik eingedrungen waren. 
Wir überblicken dort eine für die Zeit ungeheuer grosse 
Literatur. So war ihnen die Grammatik erwachsen, die 



ol ^h oh Suvavtai Sc$aoxeiv. Das Problem der Lehrbarkeit in ihrem 
Verhältnis zum Wissen mit allen Fragen, die sich daran anschliessen, 
wird die treibende Energie der Entwicklang der sokratischen 
Schulen. Vgl. vor allem den Menon und Euthydem. 

^ Auch bei Aeschines tritt dieses Ipäv als die symbolische 
Weise, in der Sokrates mit seinen Schülern umging, auf. Ebenso 
bei Xenophon Mem. IV I 2. 



— 31 — 

Beobachtung der Sprachformen, der Wortbedeutung, so 
schufen sie die Affektenlehre — die also auch hier wie 
in der Renaissance aus dem Machtbedürfnis entsteht 
und erst später ethischen Zwecken dient. Und nun 
geht Sokrates hinter alle diese Dinge zurück auf die 
allgemein - gültigen Voraussetzungen, die Axiome, die 
jedem sicher und in jedem wirksam sind, und entwickelt 
seine Methode der Frage, die jedes Resultat als das 
zwingende, logische Ergebnis des eigenen Denkens er- 
weist. Auch hier dient die td^^vYj des Handwerks und 
der Medizin als Vorbild. Das Wissen ist der uner- 
schütterliche Grund der Ueberzeugung, auf ihm ruht 
auch die eigentliche Gewalt der Bede. Man zwingt 
seinen Gegner zum Zeugen gegen dessen eigene Be- 
hauptung. Die Besinnung auf die Normen des Denkens, 
die neue Logik und Wissenslehre geschieht aber in der 
lebendigen Bede. Mem. IV 6 15: „Durch diese Zurück- 
führung der Rede auf die Grundfragen machte er auch 
den Gegnern die Wahrheit einleuchtend. Wenn er aber 
jetzt etwas auszuführen suchte, so ging er von den am 
meisten anerkannten Wahrheiten aus, indem er glaubte, 
dass dies die rechte Sicherheit der Rede sei. Daher 
weiss ich auch keinen, der es so verstanden hätte, die 
Zustimmung seiner Zuhörer zu erringen wie er, wenn 
er sprach. Drum habe auch Homer, sagte er, dem 
Odysseus das Lob eines sicheren Redners zuerteilt, weil 
er es verstanden habe, seine Rede auf allgemein ange- 
nommene Wahrheiten zu stützen.** So wird der Aus- 
gangspunkt des Beweises genommen. Seine Ent- 
wicklung aber erscheint am deutlichsten ausgesprochen 
im Theätet 196 (Phädon 100). Jeder sokratische Dialog 



— 32 -. 

beweist, dass diese Worte auch für den Meister gelten. 
„Unter Denken verstehe ich eine Rede, welche die Seele 
bei sich selbst durchgeht über dasjenige, was sie er- 
forschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann 
ich es dir beschreiben. Denn so schwebt sie mir vor, 
dass, solange sie denkt, sie nichts anderes tut, als sich 
unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und 
verneint. Wenn sie aber langsamer oder auch schneller 
zufahrend nun etwas feststellt und auf derselben Be- 
hauptung beharrt und nicht mehr zweifelt, dies nennen 
wir dann ihr Urteil \ Darum sage ich, das Urteilen ist 
ein Reden und das Urteil ist eine gesprochene Rede.** 
Hier ist das Denken schon hineingenommen in die 
Schweigsamkeit des Inneren, ursprünglich geschieht seine 
Entwicklung aber im wirklichen Dialog und der logische 
Widerspruch erscheint als realer, die Evidenz als die 
Anerkennung der lebendigen Allgemeinheit; der ganze 
Prozess des Denkens geht vor sich auf einem solchen 
Hintergrund tatsächlichen Auseinandersetzens (8iaX§- 

Auch in der modernen Geschichte^ hat es eine Zeit 
der Disputation gegeben, in der die Wahrheit einer Lehre 
abhängig war von ihrem Sieg in der Diskussion. Dieser 
galt als das entscheidende Merkmal des Wissens. Und 
auch hier bildete sich aus dem Streit die Ueberzeugung 
von der Gültigkeit der allgemeinsten Axiome heraus. Aber 
von wieviel grösserer Bedeutung war die Rede in Griechen- 
land, „Wer Geschichte damals geistig konzipierte, stellte 
sie sich in Aktion und Rede dar" (Bruns). Man denke, 

* Vgl. Natorp, PL Ideenlehre S. 110. 
2 Vgl. Locke IV 7. 



— 33 — 

wie das Drama von ihr bedingt ist. Wie sie fortgesetzt 
die Menschen beschäftigte, sieht man aus den platonischen 
Dialogen, wo sie so oft scherzhaft als das moderne Faust- 
recht erscheint. 

So entsteht das Ideal einer neuen Rhetorik, und der 
Dialog des Sokrates ist damals von allen als ihre Form 
aufgefasst worden. Die Begriffsbestimmung, die Para- 
bolien der alten Rhetorik bekommen nun alle eine lo- 
gische Bedeutung. Die Werke des jungen Plato feiern 
den Triumph der neuen Beredsamkeit, die aller Schein- 
mittel entbehren kann, weil sie in der Wahrheit gegründet 
ist. Der Phädrus ist das Programm der neuen Schule, 
die Rhetorik des Aristoteles ihre systematische Voll- 
endung. Auch Isokrates, der unter dem Einfluss des 
Sokrates gestanden hatte, definierte seine Kunst nicht 
mehr als wsi^oöc 8T)(jLtot)p7ta, sondern itsi^oög kmaxri^yi^. 
Für die Philosophen blieb von jetzt ab: jiövov töv ooyöv 
pYjTopixöv. Die Bedingung der neuen Beweisführung ist 
aber wieder das Wissen von dem widerspruchslosen Zu- 
sammenhang der Begriffe, in dem die überzeugende Kraft 
jedes einzelnen Satzes ruht. 



IV. 

Der neue Erfahrungsstandpunkt. 

Die grossen Philosophen um die Wende des 6. Jahr- 
hunderts, Anaximander, Pythagoras, Heraklit und Em- 
pedokles hatten alle in irgend einer Weise das sittliche 
Handeln des Menschen bestimmen wollen, indem sie die 

* Nach SextEmpir. adv. rhet. 62. Vgl. Sauppe, Or. Att.n224. 
Kohl, Sokrates und die Ethik. 3 



— 84 — 

Nonnen des ethischen Lebens aus der Kenntnis des 
Ganzen der Welt und ihrer Gesetzmässigkeit ableiteten, 
sowie sie es auch mit dem körperlichen Leben taten und 
die Medizin auf die Naturphilosophie gründeten ^ Ein 
Versuch, der damals bei aller seiner spekulativen Tiefe 
vollständig misslingen musste. Jede metaphysische Hy- 
pothese, in der man den Schlüssel für die Erklärung 
der Erscheinungen zu finden glaubte, sah mit gleichem 
Eechte gerade entgegengesetzte neben sich entstehen 

— ihr ewiges Schicksal ~ und das Leben verwirrte sich, 
anstatt sich zu klären. Am stärksten empfanden dies 
natürlich die Praktiker, die den Erscheinungen fortgesetzt 
tätig gegenüberstanden. Und während die grossen Schulen 
sich gegenseitig zerrieben und innerlich auflösten in der 
Dialektik ihrer Begriflfe, entstand vor allem in der Medizin 

— wenn auch beeinflusst von der Kritik der Spekulation — 
eine ganz neue Bichtung, die im bewussten Gegensatz 
zu der Philosophie des Kosmos sich dem Leben direkt 
gegenüber zu stellen suchte und durch eine neue Me- 
thode ein Wissen gewann, das, aus der Praxis heraus- 
gebildet, fähig war, sofort wieder auf diese zurück zu 
vnrken. Wie im 17. Jahrhundert wird auch hier nicht 
begonnen mit erkenntnis-theoretischen Untersuchungen, 
in solchen Zeiten der unentwickelten Methode erarbeitet 
sich das Denken seinen Weg immer am StoflF. 

Ein Programm dieses neuen Erfahrungsstandpunktes 
ist die in ihrer ruhigen und nüchternen Klarheit so merk- 



^ Es ist eine Lücke in Joels Rektoratsprogramm: „Der Ur- 
sprung der Naturphilosophie^, dass die auf die Mystik gegründete 
Medizin nicht berücksichtigt ist, zumal die historische Verbindung 
der Renaissance mit dieser Literatur die deutlichste ist. 



— 36 — 

iFÜrdige Schrift Tcspl ap^aliijc lijtptxiji;. Gomperz * hat schon 
auf die Bederntung dieser Schrift hingewiesen. Mir scheint 
sie noch eine Beziehung von der grössten Wichtigkeit 
zu haben, nämlich zu Sokrates. Ich gebe zunächst eine 
kurze üebersicht ihres Inhalts. 

Sie geht aus von einer Kritik der naturphilosophischen 
Medizin, die für Krankheit und Tod stets nur eine oder 
zwei Ursachen bereit habe, das Warme oder Kalte, 
Feuchte oder Trockene. Einige Aerzte und Sophisten 
halten eine Heilkunst unter der Bedingung für möglich, 
dass man weiss, was der Mensch ist, seine kosmische 
Entstehung und Zusammensetzung. Auch hier liegt die 
Naturphilosophie zu Grunde, wie sie Empedokles und 
andere aufgestellt haben. „Ich aber glaube, dass alles 
derartige, was ein Sophist oder Arzt über die Natur ge- 
sprochen oder auch geschrieben hat, weniger in den Be- 
reich der Heilkunst gehört als in den der Malkunst.** 
Das sind alles Hypothesen, die zu verifizieren dem Men- 
schen jeder Massstab fehlt (oo ^ap Uav. Ttpöc Su ^^p*^ 
ÄvsvsYxavta elS^vai to oay£(;). Weder ihr Entdecker noch 
seine Zuhörer können erfahren, ob sie wahr sind oder nicht. 
Uebrigens haben diese Aerzte auch keine andern Mittel als 
die alte Medizin. — Hier dringt die junge Dialektik in die 
Beweisführung des Arztes. — Unter dem Begriff des War- 
men können die verschiedensten Eigenschaften erscheinen. 
Ein „an sich warmes** etc. haben jene Leute nicht erfunden. 
Wenn sie einer fragt, dem sie befohlen haben, dem Kranken 
etwas Warmes zu geben, was das denn sei, so müssen sie 
entweder faseln oder zu einem der alten Mittel greifen. 

* Griechische Denker S. 238. Vgl. auch E d. M ey er , Geschichte 
des Altertums IV 210. 



— 36 — 

Die wahre wissenschaftliche Medizin, die t^xv?], ist 
längst gefunden. Sie braucht keine „Hypothesen", die 
nur nötig sind für den^ der „über das Unsichtbare und 
Unzugängliche, über das, was am Himmel und unter der 
Erde vorgeht", reden will. Jeder macht einen Unter- 
schied zwischen guten und schlechten Aerzten, was un- 
möglich wäre, wenn alle gleich iicsipot xal avs;ria'n]{JLOvsc 
wären und die zbyjl regierte. Die Heilkunst ist gestellt 
wie jede von den andern Techniken. Ihre Methode 

(oLpXh ^*^ ^^^^) ^^^^ ^^^^ auszugehen von dem, was allen 
bekannt ist, was jeder Laie an seinem Leibe erfährt. 
Jede Erkenntnis der Technik muss dem Laien mitgeteilt 
werden, oo ^ap wepl SXXoov tiväv oSte C^J^etv oSre X^eiv 
TcpooTjxet ^ izspl zm 9ca^{idt(iDv &v a^tol ooiot voa^ooai. Als 
Laie hat der gewöhnliche Mensch zwar keine Einsicht 
in das Wesen, Entstehen und den Ablauf seiner Krank- 
heit, was ihm aber von einem andern auseinander- 
gesetzt wird, begreift er leicht, da er nur hört, was er 
sich erinnert selbst durchgemacht zu haben, ooS^v ^äp 
Srepov ri ava|it[ivii]ax8Tat ixaaTOc axoooov im aotcp ai>[ißatvdvTa>v. 
Wenn der Arzt aber dieser Kenntnis des Laien wider- 
spricht und seine Zuhörer nicht so behandelt (Sia&Tjaei), 
so erreicht er auch die Wahrheit nicht — xal 8ta toöta 
oov taöTa oüSev Set u:ro&datoc. Wer da willkürlich behaup- 
tet, eigene Wege zu gehen, täuscht sich und andere. 

Notwendigkeit und Bedürfnis des Lebens haben die 
Heilkunst hervorgebracht, indem sie die Kultur der Er- 
nährung entwickelten. Auf diesen Erfahrungen muss die 
Medizin weiter bauen, sie unterscheidet sich aber als 
Technik von der gewöhnlichen Erfahrung, weü sie grund- 
sätzlich auf die Einsicht in die Ursache ausgeht. Ihre 



— 37 — 

Erkenntnisse stammen nicht vom Zufall, sondern sind 
methodisch gefunden durch vernünftige üeberlegung (Xotw- 
jt(j)). Aber sie geht aus vom einzelnen, von dem Essen 
und Trinken der Menschen und seiner sonstigen Lebens- 
weise und untersucht, was immer dem einen aus dem 
andern folgt (ooftßTjastat). 

Keine allgemeinen Bestimmungen über die kosmische 
Natur des Menschen, aber auch nicht blosse Empirie, 
2. B. „das macht Schmerzen", sondern ttva ts Ttövov %al 
&d Tt xal Ttvt Tö>v ev t<p av^pcoTrc^) svövtodv avsÄtnjSetov ^ 
Also Analyse des Falls und kausale Erklärung, zabza 
eX TIC elSsiTj oox $v wao/ot. Auf diesem Wege wird all- 
mählich auch die Naturerkenntnis überhaupt gelingen. 
Jene Naturphilosophen sagen einfach etwa: er hat sich 
erkältet, gebt ihm etwas Warmes. Nun gut, da ist einer 
mit schwachem Magen, der möge ungemahlenen Weizen 
essen usw. Diese Diät muss natürlich die schlimmsten 
Folgen haben. Was wird ihm Hilfe schaflFen, das Warme 
oder das Kalte, das Trockene oder Feuchte? Nach eurer 
Behauptung muss es eins von ihnen sein. So geht der 
Spass noch eine Weile weiter. Man hört hier das helle 
Lachen der klaren Ueberlegenheit durch diese Zeilen. 
Und wieder, wenn er selbst sein Verfahren schildert und 
den Käse und seine Wirkung auf den Magen untersucht 
haben will, so hat schon Gomperz auf den bewusst haus- 
backenen prosaischen Ton aufmerksam gemacht, der hier 
dem Prunk der Spekulation entgegengehalten wird. Er 
kennt viele Aerzte, die wie die Laien aus einem Komplex 
von Erscheinungen irgend eine beliebige (v^xü) ^^^ ^^ 

* Vgl. das xax& xi (Hippias d. Kl. 364 B) und das ilg xi 
(Ladies 192 E) von Sokrates, dazu Mem. IV 6 18. 



— 38 — 

wirksame herausgreifen, ohne sich den wahren Kausal- 
zusammenhang klar zu machen. Die Aufgabe aber ist, 
den Körper des Menschen in seinen Formen {(y/in^xa) 
durchsichtig zu machen, die Kräfte (8ovd{teti;) der Säfte, 
die in ihm sind und die in ihn hineinkommen, zu erkennen, 
a Set ;ravta slS^ai ^ Siaf epet o:ra>c ta altta Ivcdotcov slSd>c 
öp^ä»c f oXaooTfjtat. Gegenüber dem Alleswissen der Spe- 
kulation lebt er in dem Bewusstsein der Grenze seines 
Könnens. Zum vollständigen Wissen gehört die exakte 
Massbestimmung der Quantitäten, und hier kann der 
Arzt keine Genauigkeit erreichen, da er mit Zahl und 
Gewicht nicht heran kann und sich an die Körper- 
empfindung halten muss. So wird absolute Sicherheit 
selten gefunden. Die meisten Aerzte gleichen schlechten 
Steuermännern. Bei stillem Meer fehlen sie ungestraft, 
sobald der Sturm kommt, wird jedem ihre Unwissenheit, 
die das Schiff ins Verderben bringt, offenbar. Der ver- 
dient schon gepriesen zu werden, der nur im Kleinen 
sündigt. Es ist das Lebensgefiihl des seiner Ziele und 
Mittel klar bewussten Naturforschers, wie es am schönsten 
in dem berühmten Aphorismus des Hippokrates heisst: 

Das Leben ist kurz, 
Die Kunst ist lang. 

Man sieht, dieselbe Beschränkung auf das nächst- 
liegende „Was", mit Abweisung jeder metaphysischen 
Spekulation und hypothetischen Erörterung im Hinblick 
auf den Zwang der Bedürfnisse, wie bei Sokrates, dieselbe 
Bestimmung und Begründung dieses „Was" durch die 
Frage und Erforschung in der ganzen Ausdehnung der 
menschlichen Erfahrung, in der jeder, nicht bloss der Phif 
losoph, seine gültige Kenntnis hat, die nur systematisiert 



— 39 — 

und erklärt zu werden braucht, um Wissenschaft zu sein, 
und deren Wahrheitsgrund immer das lebendige Bewusst- 
sein ist. Derselbe Spott der Dialektik über die Ohnmacht 
der metaphysischen Begriffe und der ironische Gebrauch 
der Prosa. Derselbe Zusammenhang mit den Techniken 
des Handwerks, denen die gesuchte neue Technik gleich 
werden soll', die nicht auf dem zufälligen Treffen des 
Sichtigen^ oder der naiven Erfahrung, sondern auf der 
klaren Bestimmtheit der Faktoren und ihres logischen 
Zusammenhangs beruht. Schliesslich bei beiden das 
tiefe Gefühl der Schwierigkeit der Wahrheit und ihrer 
langsamen Entwicklung, wie es die Ehrfurcht vor den 
Tatsachen mit sich bringt. Nach dem Prinzip der histo- 
rischen Sparsamkeit würde man gern die Relation der 
beiden Standpunkte genauer fixieren können. 

Sehr schwer ist die zeitliche Bestimmung. Dass die 
Programmschrift von Hippokrates selbst ist, ist mir mit 
Ed. Meyer sicher (IV 207). Wann sie geschrieben ist, 
kann, aber nicht gesagt werden. An eine Abhängigkeit 
von Sokrates ist unmöglich zu denken. Wo der Arzt 
in der sokratischen Literatur auftaucht, ist er immer das 



^ Dies nntersclieidet sie beide am stärksten von der ganzen 
vorangegangenen und folgenden Wissenschaft. Joel spricht in 
seinem Programm (S. 5) von dem „untechnischen Zug** der griechi- 
sehen Naturforscher. „Stark in der typisierenden Auffassung bleiben 
sie kurzsichtig für heterogene Kausalität und Funktion.** Und ähnlich 
S. 24: „es fehlt der starke, praktische, technische Zug der Neu- 
zeit.** Aber diese Aerzte sowohl als Sokrates orientieren sich in 
ihrem Gegensatz zur Mystik eben an der Technik und so ent- 
steht ihnen die Erkenntnis von Ursache und Funktion; sie erschei- 
nen uns dadurch beide so modern, wie schon Plato nicht mehr. 

• Für die Gegenüberstellung von t6)^yj und ziyiyri vergleiche 
man Xen. Mem. I 4 4 — 8. 



— 40 — 

Vorbild. Hippokrates war allerdings neun Jahre jünger 
als der Philosoph, doch kann er seine Streitschrift und 
Programmschrift wohl mit dreissig Jahren verfasst haben, 
und Sokrates erscheint erst sehr spät, kaum vor seinem 
vierzigsten Lebensjahre in der OeflFentlichkeit. Das be- 
weisen die Komödien. Die neue Methode, die aus dem 
Skeptizismus hinausführte und das Mittel einer positiven 
Lebensarbeit werden konnte, wird ihm damals erst auf- 
gegangen sein. 

Die Verwandtschaft und merkwürdige Uebereinstim- 
mung des sokratischen Standpunktes mit dem der Aerzte 
ist aber nicht bloss auf diese eine Schrift beschränkt. Ich 
will nur noch einige besonders auftällige Stellen neben- 
einander setzen, die mir hier auch sonst den Zusammen- 
hang zu beweisen scheinen. 



Laches 198 D: 

{t^v eivai Tcspl 7eY0vÖT0(;, slSsvat 
ZiTQ 7S70VSV, aXXif] 8s Tcspl 
7t7VO|ievö>v, Sng Yi7V6tat, aX>.Y] 
8s Zjcq av xdXXtata Y^voito 
xai YsvTJasTat tö {injTco) Ys^ovög, 
aXX' T^ aänj. otov Tcspl to 071- 
6IVOV el<; affavtac toix; )(pövoo<; 
o&K aXXif] tt<; Tj T^ latpwcTi], 
IJita oioa, iyopt^ xal YtYVÖfisva 
xal YcYOvöta %al YsvTfjoöji-sva, 
OÄTQ YsvTiJostat. 



Der Beginn des Progno- 
stikon ^ : 

TÖV ITJtpÖV 80X6I |iOt äpiOTOV 

6tvat7rpövotavl7ttT7)8eöstv' Äpo- 
7iYVü)0Xö>v 7ap xal TcpoX^cov 
Trapa loiGi vooiooot td ts Tca- 
psövta xal ta 5cpQ76YOVÖTa xal 
ta [liXXovxa Soso&at 



* * * 



' Kühl wein, Hippokratis opera I 78 1 — 6. 



— 41 — 

Noch wichtiger aber ist der Anfang der Schrift des 
Polybos wepl (pöoto^; ovä-pcoico'j (s. Diels, Hermes, 1893, 
XXVn 430 ff.). Es war die Schultradition, die der 
Schwiegersohn und Nachfolger des Hippokrates so an die 
Spitze stellte, und es ist auch die sokratische Ueberzeugung 
und Beweisführung, sein Gegensatz gegen die kosmische 
Philosophie und Rhetorik. Jene Aerzte, die überall 
das grosse Wort führen, „sagen wohl, das Universum der 
Natur sei eins, aber dieses Eine und Ganze bestimmt der 
eine als Luft, der andere als Feuer, dieser als Wasser, jener 
als Erde; jeder führt dann für seine Lehre Zeugnisse und 
Indizien an, die von gar keiner Bedeutung sind. Daraus 
nämlich, dass sie alle dasselbe denken, aber nicht sagen, 
geht deutlich hervor, dass sie es nicht erkennen. Jeder, der 
ihren Disputationen beigewohnt hat, kann das klar sehen. 
Wenn da dieselben Leute sich vor denselben Zuschauem 
streiten, so bleibt nicht dreimal hintereinander derselbe 
Sieger, sondern bald siegt der, bald jener, immer, wer die 
geläufigste Zunge hat und sich der Masse anzupassen ver- 
steht. Und es ist doch billig, dass derjenige, der eine 
wahre Erkenntnis zu besitzen behauptet^ seine Rede sieg- 
reich durchführt, wenn er wirklich die Wahrheit sieht. 
Diese Leute aber scheinen sich mir mittelst ihrer Reden 
gegenseitig zu vernichten**. Und nun vergleiche man damit 
Xen. Mem. I 1 13 14. „Er wunderte sich aber, wenn es 
ihnen nicht klar war, dass es menschenunmöglich sei, 
dies zu erforschen, da ja auch die, welche sich auf ihre 
Disputationen über solche Dinge viel zu gute tun, nicht 
dieselbe Ansicht haben, sondern wie Wahnsinnige ein- 
ander gegenüberstehen." — «Von denen, die sich über 
die Natur des Weltalls den Kopf zerbrechen, scheine 



— 42 — 

den einen das Seiende nur eins zu sein, den andern un- 
endlich an Zahl; den einen scheine sich alles ewig zu 
bewegen, den andern nichts; diesen sei alles im Ent* 
stehen und Vergehen, den andern scheint nichts zu ent- 
stehen und nichts zu vergehen." 

Schliesslich sei noch eine dritte Stelle erwähnt. 
Mem. I 1 16 zeigt, dass das Ziel des sokratischen Er- 
kennens, die Einsicht in den notwendigen Zusammen- 
hang der Erscheinungen als Bedingung der Technik, 
ihm auch für die Naturwissenschaft selbstverständlich 
schien. Hinter diesem Satz, „ob jene Leute, welche die 
göttlichen Dinge untersuchen, auch glaubten. Winde und 
Kegen und Jahreszeitei;! und was sie sonst derart be- 
dürften, nach ihrem Willen machen zu können, wenn 
sie erkannt hätten, nach welchen Notwendigkeiten alles 
geschieht", steht ein klares methodisches Bewusstsein, 
das nur der Natur gegenüber erwächst und eine ganz 
enge Beziehung zu dem parallelen Wort des Verfassers 
„über die heilige Krankheit" hat: „denn wenn es wahr 
wäre, dass ein Mensch durch Opfer und Zauberkünste den 
Mond herabholen und die Sonne verschwinden machen 
oder Stürme und schönes Wetter herbeiführen kann, dann 
würde ich nichts von alledem für göttlich, sondern es für 
etwas Menschliches halten, da in solchem Fall die Macht 
des Göttlichen von menschlicher Einsicht gebeugt und ge- 
knechtet würde. " Man lese daneben Empedokles 1 1 (Diels). 

Ein Problem, das bisher kaum ausgesprochen worden 
ist, weil man immer dem Märchen seiner autodidaktischen 
Bildung glaubte S ist die Entstehung der Philosophie 



^ Xen. Symp. I 5: a^ioupf^C '^^ (piXoGo^pia^. 



— 43 — 

des Sokrates. Mehr wie eine Hegeische Konstruktion 
wird einem nie geboten. Man lese bei Zeller (II 35, 36) 
die Deduzierung der Notwendigkeit der Begriffslehre, in 
der die Beflexion des vorangegangenen sophistischen 
Standpunktes „als Moment aufgenommen^ sei, weil sie 
die Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten der Wahr- 
nehmung aus dem Allgemeinbegriff abzuleiten vermöge. 
Einen Beweis für diese Entwicklung kann aber niemand 
beibringen. Die Entstehung der Methode des Sokrates 
muss historisch deutlich gemacht werden. Der ganze 
Kampf des Begriffs mit der Wahrnehmung und der 
Dialektik erscheint mir nachsokratisch, als die Arbeit 
der Schulen, die den sokratischen Wissensstandpunkt 
mit den Aporien der allgemeingültigen Urteilsbildung 
und des Widerspruchs entgegengesetzter Prädikate im 
Begriff, wie sie bei den Herakliteem, Eleaten und So- 
phisten entwickelt worden waren, auseinandersetzten. 
Bei Sokrates ist von einer Logik als Objekt der For- 
schung nichts zu finden, was notwendig der Fall sein 
müsste, wenn er schon in einem solchen Gegensatz ge- 
standen hätte. Weder Xenophon noch Plato in seinen 
Jugenddialogen weiss etwas davon. Das Problem des 
XÖ70?, der Eede, die Sokrates praktisch geübt hatte, 
trat erst auf, als er nicht zum Ziel gelangte, bei den 
Schülern Antisthenes, den Megarikem, Aristipp, in denen 
die Sophistik und Dialektik wirksam war. Erst so wird 
auch diese Epoche und der Wert dieser Männer ver- 
ständlich, zwischen denen sich Plato so mühsam empor- 
ringt, während sie bei Zeller (11 42) sich in „die Glie- 
derung nicht recht einfügen" wollen und die „Durch- 
sichtigkeit des geschichtlichen Ganges zu trüben" scheinen. 



— 44 — 

Mögen die Sophisten^ auf Sokrates gewirkt haben 
— im Laches 186 will er den Sophisten nichts schuldig 
sein^ — , mag er sich in seiner Jugend erfüllt haben 
mit der Dialektik, wie sie von Zeno und Heraklit her- 
über kam, der Gegensatz scheint doch unüberbrückbar: 
für seine positive auf die Gestaltung des Lebens ge- 
richtete Energie fand er hier nirgend eine Anknüpfung, 
mit seinem tiefsinnigen, sicher kritisch bewussten Sich- 
beschränken auf das tt Sot'.v, ohne eine der genetischen 
Hypothesen oder Naturtheorien zu benutzen, mit diesem 
Sichbinden an die festen Tatsachen der Erfahrung im 
Bewusstsein und blosser Beschreibung statt Konstruktion, 
das ihm die Objektivität gibt gegenüber dem subjektiven 
Bräsonnement der Sophisten, steht er, wenn man von den 
Aerzten absieht, ganz allein. Bei Leibniz und Locke ist 
für das ganz ähnliche Verfahren in der Moral die Mathe- 
matik das Vorbild der Definition und Bestimmung der Ab- 
hängigkeitsverhältnisse. Ist es denkbar, dass eine solche 
klare, bewusste, vorsichtige Methode in der Geisteswissen- 
schaft zuerst entstanden sein sollte? Diese Unmöglichkeit 
ist für mich eigentlich das entscheidende Argument, warum 
ich das Vorbild der Medizin für Sokrates behaupten möchte. 

Von den Philosophen hat sich Demokrit sowohl als 
Anaxagoras und Empedokles mit der Medizin beschäftigt. 
Dass die Aerzteschriften damals selbstverständlich in eine 
gute Bibliothek gehörten — und zwar in grosser Zahl — 
sieht man aus den Angaben über die Bücher des Euthy- 
dem, Mem. IV 2 lo. Dass der Ausgangspunkt des 

* Wie es z. B. bei der Wortkritik des Prodikos wohl erwiesen, 
obwohl auch hier der Spott des Plato merkwürdig undurchsichtig ist. 

* Vgl. Zeller H 190. 



— 46 — 

Sokrates in der Technik gelegen war, geht aus der Apo- 
logie und dem Beweisgang fast aller seiner Gespräche 
unbedingt gewiss hervor, und hier ist die Heilkunst eines 
der häufigsten Beispiele, ja meist das leitende, mit dem 
er die Notwendigkeit des Wissens und die Art der Me- 
thode bestimmt. Er kann dabei kaum an eine Technik 
gedacht haben, die auf der Basis der von ihm ver- 
spotteten Naturphilosophie ruhte. Seine Angaben über 
Wesen, Methode und Ziel der Heilkunst zeigen stark 
auf die diätetische Theorie, wie sie jene Schrift aufstellt 
(vgl. Mem.IV 7 9, Protagoras 313, 314, StaatI 332, Alkibia- 
des I 108, Kriton 47, Jon 531, Laches 192. Die Stellen 
liessen sich leicht vermehren). Die Parallelität von Leib 
und Seele (Kriton 47, Charmides 157, 170, Laches 185, 
190 a, Gorgias 464/65, 501, 504 etc.) scheint ihm die 
Uebereinstimmung der Verfahrungsweisen immer wieder 
nahegelegt zu haben. Die ganze Art, wie er an die Men- 
schen herantritt und sie untersucht, hat etwas von der 
Diagnose. Und das eine Ziel, unsere Aufgabe zu be- 
stimmen nach den Kräften, die wir haben, wird wie von 
einem Arzt verlangt. Schliesslich sei noch an jenes letzte 
Wort erinnert, mit dem Sokrates schied, und das so tief 
in die Stimmung seiner Seele hineinleuchtet: „Wir sind 
dem Asklepios einen Hahn schuldig." Er fühlte sich 
erlöst von der Krankheit dieses Lebens. 

Mir will scheinen, als ob eine Untersuchung der 
sokratischen Schulen in ihren Beziehungen zur Medizin 
reiche Früchte bringen könnte. Ich will nur noch die 
wichtige Stelle im Phädrus 270 erwähnen. Hier soll 
die Bedingung der echten Rhetorik angegeben werden. 
Die empirische Methode, die auf Grund der bloss gewohn- 



— 46 — 

lieitsmässigen Erfahrung verfährt, bringt es, so steht da» 
zu keiner Technik. Eine J«dne Bogviadiing der Rhe- 
torik &a»haaA hm Psrikles. Er baut auf die Naturphilo- 
seplde des Anaxagoras. „Alle grösseren Künste bedürfen 
des spitzfindigen und hochfliegenden ([teteoipoXoYCac) Ge- 
schwätzes über die Natur. Denn nur daraus kann jene 
Würde und Zuversichtlichkeit im Erfolg entstehen, wie 
sie Perikles sich erworben hatte.** Das kann doch, nach 
dem Protagoras, dem Gorgias und der Apologie nur 
spöttisch gemeint sein. Und Sokrates erklärt weiter: 
„Es hat dieselbe Bewandtnis mit der Redekunst, wie mit 
der Heilkunst.** In beiden muss man die Natur, des 
Leibes in der einen, der Seele in der andern einteilen, 
wenn man nicht tpiß-g {tövov xal k^Tttipia^ aXXa t^/vig Hei- 
lung und Tugend schaffen will. Hippokrates ^ behauptet 
nun, man könne die Natur des Körpers nicht begreifen 
ohne die Natur des Ganzen. Dieselbe Frage entsteht 
für die Seele, die wahre Vernunft aber (oXyj^c Xö^oc) 
sagt, man muss von der Natur eines jeden einzelnen 
Dinges ausgehen und seine Gestalt und seine Kraft, 
in Wirkung und Leiden, bestimmen. Das ist die Me- 
thode unserer Schrift. Und nun wird dreierlei ver- 
langt: 1. Die Erkenntnis, ob die Seele eins ist oder 
nach der Natur des Leibes vielartig. 2. Worauf sie 
ihrer Natur nach wirkt und was und wovon sie und 
was für Wirkungen erfährt. Das sind die beiden For- 
derungen, die auch der Arzt aufstellte (ox>5[i.ata xot 
Sovatisic). Plato fügt hinzu als drittes: man müsse alle 
verschiedenen Ursachen durchgehen, was für eine Seele 

* Das kann hier, bei dieser Interpretation, nicht der Verfasser 
unserer Arztschrift sein. Das Problem ist ja bekannt. 



— 47 — 

durch was für Reden aus welcher Ursache überredet 
werde. Dies ist weiter nichts als die Heraushebung der 
Erkenntnis der Ursache als des Bestimmenden und 
brauchte keine besondere Postulierung, wie sie denn auch 
der Arzt nicht ausdrücklich daneben stellt. Dass dieser 
ganze Abschnitt abhängig ist von jener Schrift, scheint 
mir sicher, um das Original zu sein, ist er zu wenig 
klar. Man fühlt überall das Zusammengezogene und 
fremd Herübergenommene, das die klare Absicht so ver- 
wirrt. Hat man doch oft genug die Stelle so misi^rer- 
standen, als ob für Plato hier die kosmische Grundlage 
der Seele die Bedingung für ihre Erkenntnis sei, ob- 
wohl doch die nähere Erklärung dann gerade entgegen- 
gesetzte Ziele weist. Schwierigkeiten bietet meine Inter- 
pretation auch noch, das sehe ich wohl, der Gegen- 
satz des akfid-ffi XöYOc 2U der Theorie des Hippokrates 
ist nicht scharf genug herausgestellt. Vielleicht ist mit 
1^ To5 5XoD yöatc, wie Charmides 156 c nur der ganze Zu- 
sammenhang der Funktionen des menschlichen Körpers, 
nicht das kosmische Ganze gemeint, wie ihn unser Arzt 
auch erstrebt, oder es handelt sich um eine Natur- 
erit^nntnis, wie sie in der Schrift „Ueber Luft, Wasser 
und Lage" gezeigt wird, auf die sich ein Satz des Ver- 
fassers über „die alte Medizin" wohl beziehen könnte, wo 
er davon spricht, dass seine Methode schliesslich auch 
zur Einsicht in das Ganze der Natur führe, die aller- 
dings am Ende die höchste Bedingung einer absoluten 
Erkenntnis sei. 

Die entscheidende Stelle des Gorgias (465 a) für die 
neue Methode t^xvtjv 8k aorJjv o5 yif](JLt elvat oXX' l[JL7C6tpiav, 



— 48 — 

eotiv, &3T6 TYjv attiav ixiotoo fj.*}) Sy/tv eiicsiv. 670) 8^ t^vnjv 
OD xoXeb, 8 £v ig SX070V ffpäY|ta, sagt nichts weiter, als 
was der Arzt fast mit denselben Begriffen (X^yoc, 
altla, yootg) fordert. In der Medizin ist eben natur- 
gemässerweise gegenüber der aT]|i.stov-Theorie einer em- 
piristischen Schule, die von der tox>] abhängig ist, (das 
oTjtieiov ist das medizinische, nicht das religiöse, wie Na- 
torp behauptet) und gegenüber einer spekulativen und 
mystischen Begründung diese Methode der rationalen 
Interpretation der Tatsachen, die dem Erkennen zu- 
gänglich sind, zum Zweck der Technik entstanden und 
dann samt den Gegensätzen von Sokrates übernommen 
worden und hat noch tief in Plato hineingewirkt. Das 
scheint mir nach allem von grosser Wahrscheinlichkeit 
zu sein. 

Der Philosoph greift aber tiefer als der Arzt ^ Die 
Krankheit des Lebens muss von der Seele aus geheilt 
werden (Charmides), und die Gesundheit ist nur ein 
Bruchteil der Güter, die wir in der Eudämonie zusam- 
menfassen. Der sittliche Empirismus des Sophokles, der 
so ganz idealistisch ist, weil ihm die religiös ethischen 
Gedanken „so real sind, wie nur irgend eine sinnliche 
Erfahrung"*, ist hier zu methodischem Bewusstsein ge- 
kommen, welches jedes Gut, das es erlebt, sei es nun 
die Lust, die aus dem Genuss entsteht, oder die Ge- 
rechtigkeit und jede andere Tugend, als solches hinnimmt 
und nur fragt nach seiner Stellung in dem rationalen 
Zusammenhang der Gesamtheit der Werte. Für einen 
Augenblick wird hier einer Menschenseele, die nur auf- 

» Vgl. Zell er II 154. Auch Laches 195/96. 
« Ed. Meyer a. a. 0. IV 122, 148. 



— 49 — 

fassen, nicht konstruieren will, der ganze Reichtum un- 
seres Daseins sichtbar. 2000 Jahre lang ist das Leben 
nicht wieder so objektiv- angesehen worden. Das war 
die merkwürdige Freiheit des einen Individuums, dem im 
ethischen Leben, wie seinem grossen Zeitgenossen in der 
Medizin, der das Buch über die heilige Krankheit ge- 
schrieben hat, auch „alles göttlich und aUes menschlich^ 
(icavra ^eia xal Tcdtvta ävÄpcoTrtva) erschien, weil ihm der 
gute Wille selbstverständlich war, so dass nur die Ein- 
sicht entscheidet, und mit der logischen Bewältigung der 
Tatsachen auch ihre wirkliche Gestaltung gegeben ist. 
Auch wir heute glauben wieder an eine immanente Re- 
gelung der Werte, aber wir wissen, dass wir sie nur 
erleben, nicht sie logisch sichtbar machen können, auch 
nicht durch die kritische Methode einer Normenphilo- 
sophie. Das ist der Erfolg der geschichtlichen Arbeit 
des ethischen Denkens, dessen Schicksal schon in So- 
krätes symbolisch gleichsam vor uns steht. 

Vor ihm lag die ganze Breite der Erfahrungen 
menschlichen Willens, der Tatsachen menschlicher Wer- 
tung, der Zwecke und ihrer Rangverhältnisse zuein^ 
ander. Es schien ihm unmöglich, sie metaphysisch ab- 
zuleiten oder sie psychogenetisch zu interpretieren; so 
wie sie da waren in ihrer unberührten Tatsächlichkeit, 
deren Realität fortgesetzt dem Bewusstsein gegenwärtig 
ist, mussten sie aufgefasst und analysiert werden, bis 
schliesslich die rationale Ordnung sichtbar wurde, in der 
sie sich widerspruchslos neben- und übereinander stellten 
und aus der sie dann ihren festen und logisch verankerten 
Wert erhalten konnten, der in der Definition aus- 
gedrückt ist. 

Nohl, Sokrates und die Ethik. 4 



— 50 — 

So entsteht die Lebenstechnik. Kein Urteil darf 
grundlos sein^. In der Auseinandersetzung muss der 
Tatbestand entwickelt werden. Daö einstimmige Be- 
wusstsein der beiden Partner ist der letzte Erkenntnis- 
grund. Das Ziel des Urteils ist die vollendete Definition 
eines Begriffs, als der Ausdruck klaren und deut- 
lichen Wissens von ihm, in dem sein Inhalt und sein 
Umfang ganz sichtbar wird — das Postulat der Auf- 
klärung. Ein grosser Teil der sokratischen Lebens- 
arbeit muss in der systematischen Aufhellung und Ord- 
nung der Begriffe bestanden haben. Das Geheimnis des 
Könnens der besten Männer, geschätztesten Hei*rscher 
und besten Redner schien ihm diese Kunst des Aus- 
einandersetzens der Begriffe, wie es im Dialog geschieht. 
Schliesslich ist jedes Wissen gegründet in allgemeinsten 
Sätzen letzter Art, aus denen sich die Gewissheit ab- 
leitet. Es sind die allgemeinsten Voraussetzungen (otcö- 
^cotg*), die allgemein angenommenen Wahrheiten, auf 
die man den Beweis zurückführen muss. Und hier ent- 
steht ihm nun sein eigentlich philosophisches Problem. 
Auch diese Wahrheiten werden ihm zu Grundfragen. 
Erst in ihrer widerspruchslosen Architektonik vollendet 
sich das Wissen. Diese letzten Grundsätze, an denen 
das gesamte Wissen, das zum Gelingen der Lebens- 
führung nötig ist, hängt, sind die absoluten Werturteile 

* Die Stellen für die Art seiner Forschung Arist. 1078 ^ 17, 
1086b 3, 98761) 1-4, 1373b s, Xen. Mem. IV 5 11-12, 6 13-15, dann 
vor allem der Gang der plat. und xen. Gespräche. 

' Dieses Wort tritt schon bei Xenophon auf, Mem. IV 6 131. 
Wie denn überhaupt von der Methodenlehre viel mehr auf Sokrates 
zurückgeht, als Natorp annimmt, der alles dem Plato zuschiebt 
(vgl. Piatos Ideenlehre, vor allem S. 46). 



— 51 — 

gut und schlecht,- gerecht und ungerecht, schön, schimpf- 
lich und hässlich, angenehm und unangenehm, nützlich 
und zuträglich. Ihr Inhalt muss definiert, die Kegeln 
ihrer Beziehung zueinander klar aufgedeckt werden« 
Das grosse Problem wird sein, ob sich die ganze em- 
pirische Breite des Lebens so einfangen lässt in das 
Netz unserer Begriffe. Und wenn das Denken auch 
hier wieder nicht zum Ziel kommt, welche Wege es 
dann einschlagen musste und eingeschlagen hat. 



V. 

Freiheit. 



Allen Reformen des Sokrates lag der eine grosse 
Glaube an die Allmacht und Notwendigkeit des Wissens 
zu Grunde, in ihm ruhte die MögUchkeit der Päda- 
gogik, der Rhetorik, der Lebensordnung überhaupt. Das 
war die folgerichtige Konsequenz der Aufklärung. Jetzt 
dringen wir tiefer in seine Persönlichkeit hinein und 
finden diesen Glauben zugleich begründet in dem Be- 
dürfiiis seines innersten Willens. Hier blicken wir in 
das eigentlich aktive Ethos dieses Mannes. Da ist die 
ganze Substanz menschlichen Strebens, wie sie in den 
„Vorurteilen" der verschiedensten Art zu Tage tritt. 
Er lässt sie alle gelten, der Wille ist immer auf ein 
Gut gerichtet, das ist sein Wesen und sein Gesetz. 
Kein Mensch tut freiwillig das Schlechte, oder besser — 
wenn wir das Komplizierte dieses Ausdrucks zunächst 
vermeiden — was dem Menschen nicht als Wert er- 
scheint, das will er nicht, und er will immer das, was 

4* 



— 62 — 

ihm momentan das Wertvollere dünkte Aber die Er- 
fahrung lehrt ihn, wie oft dieser momentane Wille falsch 
greift. So fordert die Eudämonie des Menschen, in 
der sich sein ganzes Wesen erfüllt, die Besinnung über 
das Verhältnis seiner einzelnen Antriebe, der Güter und 
Werte, wie sie im Dialog sich offenbaren, über ihre De- 
finition und schliesslich Gliederung in einen widerspruchs- 
losen Zusammenhang, in dem der feste Punkt mensch* 
liehen Wertens imd Handelns gegeben ist. In diesem 
Wissen erreicht der Mensch seine Freiheit. Das ist 
der letzte Satz des sokratischen Glaubens. Denn wer 
das Gute weiss, der tut es. Das Wissen ist die absolute 
Macht im Menschen. Sokrates leugnete die Akrasie,. 
das Ueberwältigtwerden des bewussten Willens von der 
Schar der andern Impulse. Aristoteles hat ihm schon 
vorgeworfen, dass er damit das äXo^ov [Ji^poc ^»x'JJc auf- 
hebe, Euripides im Chrysippos und im Hippolytos*^ 
wendet sich leidenschaftlich dagegen, und Joel hat die 
härtesten Konsequenzen daraus gezogen, als ob es in- 
der Psyche des Sokrates überhaupt nur rationale Ele- 
mente gegeben habe. Schon der Superlativ in dem ooS^v 
lo5(opöTepov hzioTfi^fi^ bei Aristoteles (1246*85) zeigt aber 
das Vorhandensein wenigstens anderer Funktionen, und 
der innerste Trieb seiner Seele offenbart sich in jeneni 
denkwürdigen Worten, die Aristoteles (1145* 2b) ihn sagen 

* Das ist kein abstrakter Grundwille, wie ihn Wildauser 
(Die Philosophie des Willens bei Sokrates) konstruiert, den Sokra- 
tes sofort mit seiner Dialektik, die immer nach bestimmten Gutem 
fragt, zerstört hätte, sondern nur das Zeichen des Willens über* 
haupt. Seinen Inhalt gibt das Leben, verlangt wird bloss das ratio- 
nale Verhältnis dieser so vorhandenen Güter. 

« Vgl. hier Nestle, Euripides S. 174. 



— 63 — 

iässt, die auch im Protagoras atehen und b^ Xenophon 
^ 1 16, lY 2 S9) ähnlich vorkonunea Seiv&v Yop imaxii^rfi 
ivo6(Tqc S}Xo Tt xpaiEiV xal icepidXxeiv a&tiv &<nc6p avSpdcTroSov. 
'^Schrecklich wäre es, wenn den Menschen, trotzdem 
ihm das Wissen einwbhnt, etwas anderes beherrschte 
lind ihn herumzerrte, wie einen Sklaven.'' . Das Unter- 
liegen der andern unter der Macht der Affekte hat er 
wohl oft genug erfahren, aber sein Freiheitsgefiihl bäumt 
sich in ihm auf gegen die Hilflosigkeit des Menschen 
und seine' Sklaverei. Es muss ein Wissen geben, das 
-uns frei macht. Es ist wieder nur ein Postulat, dieses 
Wissen, aber alle Sehnsucht der Menschen muss darauf 
ausgehen, es zu gewinnen. Dieses Wissen muss all- 
mächtig in uns sein. Es kann ja gar nicht anders sein: 
-„Seivöv Ydp"» Und auch sein Glaube an die Lehrbarkeit 
der Tugend auf Grund des Wissens hat diesen tieferen 
•Gehalt der Freiheit, denn mit ihr ist der Mensch erlöst 
-von dem Fluch der Naturbedingtheit, der Geburt und 
Basse, der sich die Dichter Griechenlands fast, alle 
unterwarfen. Unabhängigkeit vom blinden Affekt wie 
vom Zufall und der Geburt, Feststehen in der Gesetz- 
mässigkeit des Lebens, deren Wesen das Beharren und 
die Unwandelbarkeit und deren Ausdruck das Wissen 
ist, das ist die Freiheit und die Grösse des Menschen, 
und in ihrem Besitz erreicht er die Eudämonie. So 
wird der Dialog, in dem die Wahrheit gesucht wird, 
die ethische Aufgabe des Mannes. In dem Ziel der 
Wahrheit, als der siegreichen Macht des Le- 
bens, vereinigen sich alle seine Gedanken als in ihrem 
Brennpunkt. Dieses Ideal des Wissens ist seine sitt- 
liche Grösse, auf ihm beruht seine ethische Wirkung. 



— 64 — 

Der naive Empinsmus dnes Sophokles, so schön er war 
in seiner freien Lebendigkeit des Glaubens, war schliess- 
lieh wehrlos gegenüber der willkürlicfaen Vergewaltigung 
des sittlichen Daseins, wie sie die jungerwachte Intellek- 
tualität ausübte, die doch auch im Recht war, weil sie 
das Handeln des Menschen loslöste aus der religiösen 
Gebundenheit, in der es bei Sophokles erscheint. In- 
dem Sokrates auch die ethischen Werte der Wahrheit 
unterworfen glaubte, stellte er den Menschen ebenfalls 
auf sich und sein Bewusstsein als den autonomen Bichter 
über seine Ziele, zugleich aber bewahrte er die Sittlich- 
keit vor der Zersetzung durch den egoistischen Willen 
des einzelnen in der Forderung einer allgemeingültigen 
Gesetzlichkeit, die über dem Individuum ist, wenn er 
auch nicht mehr festzustellen vermochte, als die Auf- 
gabe des Wissens, 

Eine tiefe innere Beziehung verbindet den Idealis- 
mus der Persönlichkeit mit einem rationalen Radikalis- 
mus. Das Subjekt, das, wo ein klares Gebot der Gott- 
heit nicht mehr gilt, auf sich steht und aus seiner Seele 
heraus handeln will, muss sich auf die Wahrheit stellen, 
die die logische ist. So dachten auch Descartes und 
Eant. Der Satz des Widerspruchs wird der Halt, an 
dessen Hand der Mensch frei durch die Wirrnis des 
Lebens hindurch zu schreiten hofft. 



— 55 



VI. 

Die Aporie des Sokrates. 

Wer die Antigone kennt, weiss, wie der Dichter 
den guten Willen des reinen Herzens zu bewahren ver- 
mochte vor der falschen Reflexion des Verstandes, nicht 
anders als die Iphigenie Goethes: „Ich dei^ke nicht, ich 
fühle nur.** Sokrates stand vor der Aufgabe, den ganzen 
sittlichen Gehalt seines Innern logisch zu begreifen, um 
ihn zu sichern, und der Philosoph kam da nicht zum 
Ziel. Aber der grosse göttliche Mensch ging ebenfalls 
frei in den Tod für die Ueberzeugung seines Herzens, 
die auch ihm gewiss war über alles Begreifen hinaus. 

Alles, was an ethischer Substanz im griechischen 
Volke noch vorhanden war und in den grossen Tragödien 
sichtbar wurde, das Bechtsgefühl vor allem, die Hingabe 
an den Staat und die Allgemeinheit, das Ideal der 
Freundschaft, die Schätzung der grossen Tugenden, der 
Besonnenheit, der Tapferkeit, der Frömmigkeit, all das 
sind auch ihm unerschütterliche Werte, unberührt von 
aller Skepsis, die grossen Tatsachen seines Lebens. Aber 
auch der Genuss des Daseins, die Nutzbeziehungen sind 
ihm in den Zwecken menschlichen Willens enthalten, 
und alles das in seiner gesamten Totalität macht die 
Glückseligkeit des Menschen aus, in der die vollendete 
Befriedigung erreicht ist So geht er nun mit der rast- 
losen Energie seines Denkens an die Bestimmung des 
Lebensgehalts, der in seiner mächtigen Persönlichkeit 
beschlossen ist. Diese ganze konkrete Innerlichkeit gilt 
es zu klären, im Dialog aus dem Bewusstsein des andern 



— 56 — 

zu entwickeln und zu definieren und so die rationalen 
Beziehungen dieser Werte, die unausgesetzt erlebt und 
ausgesprochen werden, ins Bewusstsein zu heben, um 
das Kriterium des gelingenden Handelns zu haben. 

Der wundervollen Heiterkeit seiner eigentümlichen 
Seele war ein böser Wille nicht denkbar. Darum ist in 
seiher Bestimmung der Eudämonie noch nicht von eigent- 
licher Sittlichkeit die Eede — wenn denn Sittlichkeit durch- 
aus das Erlebnis des Zwiespalts menschlichen Wollens 
und der Tat aus dem Bewusstsein des Sollens sein muss. 
Noch ist es die gesamte Breite menschlicher Zwecke 
überhaupt, wie sie nach Befriedigung verlangen in un- 
gebrochener Ganzheit, die er vor sich hat, in denen sich 
unser Wesen auslebt und die nur nach Gliederung ver- 
langen, nicht nach Rechtfertigung oder Forderung. Mit 
diesem Lebensgefühl, das allseitig jedes Gut gelten lässt, 
hat er zu jedem Menschen ein verständnisvolles Verhältnis 
und stets einen gemeinsamen Boden und Ausgangspunkt. 
Und da er glaubt, dass der begreifliche Zusammenhang, 
der jedem Gut seinen festen Platz anweist, den logischen 
Zwang in sich trägt, so muss auch Gerechtigkeit^ Auf- 
opferung und wahre Freundschaft etc. einem jeden als 
in der vollkommenen Eudämonie enthalten beweisbar sein. 
Das ist der merkwürdige Erfahrungsstandpunkt seines 
Idealismus. 

Wenn Sokrates im Kriton (49 d) sagt: „Ich weiss 
wohl, dass nur wenige dies glauben und glauben werden" 
— nämlich dass unrecht leiden besser ist als unrecht 
tun, „zwischen denen, die dies annehmen und die es 
nicht tun, gibt es keine gemeinschaftliche Beratung; son« 
dem sie müssen sich notwendig gegenseitig verachten, 



— 67 — 

wenn einer d^s andern I^tschlüsse sieht; überlege also 
auch du recht wohl, ob du Gr^meinschaft. mit mir machst 
und dies auch annimmst^, dann ist das erst platonisch. 
Es ist die neue Einsicht, die das Leben und der Tod 
des Lehrers gab und aus der eine dualistische Metaphysik 
sich erhebt, die solche Geschehnisse allein zu erklären 
vermag. Sokrates selbst glaubte an die Allgemeingültig- 
keit der Erfahrung und ihre immanente Logik, und sein 
Lebensgefühl wurzelte tief in der Volksethik des griechi- 
schen Eudämonismus, dessen Ideal, die xaXoocaYaftia, in 
seiner seltsamen Zusammensetzung ebenfalls den ganzen 
Komplex menschlicher Güter umschreiben wollte, zu 
denen das Sittliche so gut gehörte wie Beichtum, Buhm 
und Gesundheit. 

Das Glück war auch das schwere Problem der 
griechischen Tragödien, nicht wie das oft behauptet wird, 
die Sittlichkeit, sondern ihr Erfolg in der Gerechtigkeit des 
Weltlaufs ; so sind die Ideale, an denen die Dichter ar- 
beiten, die göttlichen, nicht die menschlichen; was sie darr 
stellen ist der Schicksalszusammenhang, die Theodicee, 
nicht ethische Entwicklung im Kampf der Innerlichkeit. 
Das ist die notwendige Folge der religiösen Gebundenheit 
der Tragödie, in der die sittlichen Forderungen als gött- 
liche Gebote erscheinen. Erst die Aufklärung löst den 
Menschen hier los, indem sie ihn auf sich und seine Ent- 
scheidung stellt. So kann jetzt erst ganz allmählich die 
Charaktertragödie entstehen, in der wir die Wandlung 
einer Seele beobachten, die aus eigener Kraft geschieht, 
und in der der Mensch sich über das Schicksal erhebt, 
wie jdas am tiefsten im zweiten Teil des Herakles erreicht 
ist. Aber die eigentümliche griechische Anschauung von 



— 58 — 

der Seele, die gleichsam physiologisch ist, liess es hier, 
auch abgesehen davon, dass die Tragödie von ihrem re- 
ligiösen Ursprung nie ganz los kam, nicht zu völliger Frei- 
heit des Handelns kommen. Schliesslich hört der Sterb- 
liche doch immer nur die eine Antwort, dass es ein Unglück 
für ihn ist, wenn ihn das Leben zu hoch gehoben hat, den 
Fluch einer übermenschlichen „Natur"* Diese physio- 
logische Anschauung wirkt in der Aufklärung weiter und 
kommt zu ganz klarer Fassung in der Charakteristik des 
Themistokles durch Thukydides (1 138), der Beurteilung 
eines Menschen aus der „Kraft seiner Natur" ohne ir- 
gend eine moralische Beimischung. Sie allein ermöglichte 
auch den frühen Uebergang zu einem „Naturrecht", wie 
es die Sophisten schufen. Der Mensch ist jetzt das Mass 
der Dinge geworden, aber er ist stecken geblieben in 
den Banden der f ook;. Soviel ich sehen kann, ist Sokrates 
der erste, der über diese Schranke frei hinausgeht, min- 
destens ist in ihm das neue Lebensgefühl zur Beife ge- 
kommen. Jetzt nimmt das bewusste Individuum die 
Zügel des Schicksals in seine eigenen Hände. Souverän 
gestaltet es sein Leben, das es von seiner Erkenntnis 
bedingt sieht, und der Optimisonus entsteht, der den 
Weltlauf den Zwecken des Menschen unterworfen weiss. 
£s ist nicht meine Aufgabe, hier auf das schwierige 
Problem der sokratischen Religion einzugehen. Hat 
Sokrates da eine Antwort gegeben, so hat sie sicher in 
der Sichtung gelegen, die Xenophon in den Memorabilien 
und Piaton im Phädon zeigen, nämlich die metaphysische 
Orientierung eines Idealismus der Persönlichkeit, dem 
aber, da die Begriffe des Gesetzes, der Pflicht und der 
Verantwortlichkeit, die erst bei den Bömern entstehen, 



— 59 — 

nicht wirksam sind, und die Ethik aus dem eigenen 
Willen des Individuums erwächst, die lebendige und per- 
sönliche Beziehung fehlt Das Entscheidende ist doch, 
dass das Glück jetzt in der Gewalt des Menschen selbst 
ist Wie weit bei Sokrates die Bedingtheit des Erfolges 
noch in der Hand der Götter lag und welche Bedeutung 
das Dämonium hier für ihn gehabt hat, lässt sich kaum 
sagen. Auf jeden Fall, das hat Joel bewiesen, steht er im 
Gegensatz gegen die abergläubische Schicksalsverehrung 
und ihre Konsequenz, die Mantik. Das neue Ideal ist 
die eunpa^Ca, die Glückseligkeit, die der Mensch sich 
schafft, nicht die exyco)(lciL des Zufalls: ja nach dem 
Euthydem war ihm mit dem Wissen der Erfolg gegeben 
— auch hier die paradoxe Ueberspannung der Macht der 
Erkenntnis, hinter der aber wieder der tiefe ethische 
Glaube stand, dass auch das Schicksal der Wahrheit ge- 
horche, ein Glaube, der die höchste Energie des Menschen 
frei werden lässt. Auch die Götter lieben, das ist seine neue 
Gewissheit, denjenigen am meisten, der durch sein Berufs- 
können den Erfolg für sich hat, den praktischen Erfolg des 
Arztes und Herrschers so gut wie den innerlichsten der 
höchsten Sittlichkeit, in dem er selbst freiwillig den Tod 
erlitt. Es lässt sich schwer bestimmen, wie solche Geistes- 
verfassung zum Gebet gestanden haben wird. Man solle 
einfach „um das Gute^ bitten, heisst es in den Memora- 
bilien, aber das war ja das Wissen und seine Folgen und 
lag in der eigenen Macht. Schliesslich musste eine solche 
Stellung gegen das Leben zu einer unreligiösen Isolierung 
des Menschen auf sich selber fuhren und zu einer fal- 
schen Beschränkung dessen, was Glück genannt wird, 
auf die Güter, die von seinem Willen abhängig sind. 



— 60 — 

eine Konsequenz, zu der die eudämoniatische praktische 
Ethik immer wieder gedrängt wird, die einen rationalen 
Weg zum Glück führen will und so den Beichtum der 
Güter willkürlich beschränken muss, wie denn der Kyniker 
und der Stoiker nur noch aus sich selber leben soll und 
aus seiner Negation der Welt. Für Sokrates, der das 
gesamte Dasein der Einsicht durchdringbar glaubte, waren 
aber auch die objektiven Güter in der Eudämonie ent- 
halten, alles Schöne und Edle, die Ordnung des Staates, 
auch die Süssigkeit des Lebens. Das alles musste in 
einen Zusammenhang gebracht werden, in eine Güter- 
ordnung, aus der dann auch die Tugenden abzuleiten 
waren. 

Lebenslang hat er nun gearbeitet an der Zerlegung 
der so ineinander gewachsenen und sich behauptenden 
Willensantriebe und Wertgefühle. Und wie jeder Mühe 
des Intellekts, hier eine rationale Einheit herzustellen, 
das realistische Bewusstsein von der unzerstörbaren Gültig- 
keit der Werte, welches eine einseitige Bestimmung nicht 
dulden will, unauflöslich gegenüberstand, so bekennt sich 
die Keflexion am Ende des Lebens wie am Anfang zu 
der BesultaÜosigkeit des Nichtwissens. Man mag über 
die platonische Apologie und ihre Verschiebung der 
.wirklichen Verteidigungsrede denken wie man wiU — 
ihre Echtheit kann man kaum bestreiten — sie muss in 
den .Tatsachen, die sie erzählt, Wahrheit bieten. Eine 
solche Tätsache aber ist, dass .Sokrates nicht nur keine 
Erkenntnis der Natur besitze, sondern sich auch nicht 
als Lehrer der Tugend ausgebe, weil er nicht wisse, 
.was sie sei. Ausdrücklich wird hier der Argwohn der 
Ironie abgewiesen: „Vielleicht wird manchem von euch 



— 61 — 

bedünken, ich scherzte ; glaubt indes sicher, dass ich die 
reine Wahrheit rede." 

Die eigentümliche Verbindung mit dem Orakel, in 
der das Nichtwissen auftritt, als ob es der eigentliche 
Inhalt seines Lebens gewesen sei, kann hier unerörtert 
bleiben. Das Bewusstsein von der Uebermenschlichkeit 
der Wahrheit, von dem ewigen Nichtwissen des Menschen, 
aber seinem unermüdlichen Streben, ist wohl platonisch, 
wie es dann im Lyses und später im Gastmahl so wunder- 
voll zum Ausdruck kommt. Entstanden war es dem Pluto 
aber allerdings aus dem sokratischen Schicksal eines im- 
mer wieder resultatlosen Denkens, das er ganz durchleben 
musste, und es war eine der möglichen Lösungen, die 
seine Schüler für diese rätselhafte Erscheinung gefunden 
haben. Im Charmides, Theätet, Phädrus, Menon, Sym- 
posion, Staat taucht das Bekenntnis der Unwissenheit 
immer wieder auf. Unter den wenigen Fragmenten, die 
wir von Aeschines haben, findet es sich: xal 8"^ xal 4y«ö 

S|jL(i)c $(iT]v £uvd)V £v lxs(v({) Sia TG Ipotv ßeXttü) rofy^aav. 

Der Ausdruck des Wissens war die Lehrbarkeit, 
aber nach Mem. I 11, 12 bekannte er sich nie dazu, 
Lehrer menschlicher Dinge sein zu wollen. Xenophon 
kann nur sagen: „Er wirkte durch die Tat." Und noch 
charakteristischer ist Mem. IV 4 9— ii. „Es ist gewiss, 
dass du andere immer ausfragst und in die Enge treibst 
und selbst keinem Bede stehst und über nichts deine 
Meinung sagst." Wieder lässt ihn Xenophon antworten: 
„Sind es auch nicht Worte, so ist es doch die Tat, 
wodurch ich an den Tag lege", was ich für gerecht halte. 
„Oder glaubst du nicht, dass auf die Tat mehr zu gebeii 



_ 62 — 

sei, als auf das Wort?'' Das ist natürlich vollständig nn- 
sokratisch, aber es war doch auch eine Interpretation der 
Erscheinung des Lehrers, welche die lebendige Macht 
seines resultatlosen Lebens, die doch so stark empfunden 
wurde, weiter entwickelte. Schliesslich überliefert auch 
Aristoteles: Sokrates fragte immerund antwortete nicht, 
weil er behauptete, nichts zu wissen. 

Hier wird seine Methode mit dem Nichtwissen in 
Verbindung gebracht und die Dialoge Flatos zeigen in 
ihrer Entwicklung, wie diese künstlerische Form bedingt 
ist von dem Mangel einer abgeschlossenen Erkenntnis. 
Je dogmatischer seine PhUosophie wird, um so bedeutungs- 
loser wird die Form, bis schliesslich im Timäus der ge- 
schlossene Vortrag an ihre Stelle tritt. Die ganze Schön- 
heit der jungen Werke liegt darin und ihre tiefsinnige 
Wahrheit, dass nicht ein Wissen in ihnen expliziert 
werden soll, sondern nur so die Lebensstimmung, die 
lebendige Gemeinschaft des Philosophierens, deren Seele 
der Eros ist, zum Ausdruck kommen kann, und in der 
Persönlichkeit des Lehrers die Gewissheit der Wahrheit 
und die Grösse des Willens über alles Wissen hinaus zu 
Tage tritt. Man muss sich dies ganz deutlich machen, um 
die poetische Triebkraft fast aller Schüler des Sokrates zu 
verstehen. Plato ist ja nicht der einzige und nicht der erste 
gewesen, der in dem Irrationalen der künstlerischen Dar- 
stellung allein das Mittel fand, sich den 'Gehalt dieses Le- 
bens fassbar zu machen und andern mitzuteilen, das so er- 
haben vor ihnen gestanden hatte, ohne sich auszusprechen K 

* Hätten die Schüler positive Sätze zu überliefern gehabt, 
es wäre nicht zu dieser Literatur gekommen. Zu Memoiren viel- 
leicht, denn die Gesellschaft der Zeit hatte ein Bedürfnis sich zu 



— 63 — 

Denn das ^ar eigentlich seinen Zuschauern das 
Erstaunliche an ihm, und wenn man denn so will, das 
Ungriechische, wenigstens das Neue: diese Gehaltenheit 
einer Person, deren ganzes Tun die mächtigste Ueber- 
zeugung und untrüglichste Sicherheit des WoUens aus- 
drückte, die doch alles verschliesst in die Schweigsam- 
keit der Seele. Während die andern alle ihr Denken 
sofort hinausreden müssen, ihr Schwatzen alles ans Licht 
und vor die Augen tragen muss, bewahrt dieser Mensch 
sich und sein Schicksal in seinem Busen. Nur die Wahr- 
heit hat allein für ihn den Wert, ausgesprochen zu werden. 
Es handelt sich immer nur um die Sache. Was in seinem 
Innern vorgeht, verrät kein Zug. Der Scherz und die 
Ironie ist das Mittel, ihn vor jedem fremden Eingriff zu 
schützen (vgl. Xen. Symp.). Und wie ihm das Dämonische 
in den Erfahrungen seiner Seele noch bewusst ist, das 
der Rationalisierung nicht unterliegt, und wie er in ek- 
statischem Grübeln die Geheimnisse seiner Innerlichkeit 
überdenkt, ist er den andern ein Rätsel, wie es am tiefsten 
im Symposion des Plato ausgesprochen wird. Hier ist 
das Urphänomen eines grossen Individuums allen sicht- 
bar geworden ^ Die „Kraft der Natur" eines Alkibiades 
war jedem Griechen verständlich, er hasste oder liebte 
ihn , in Sokrates aber schien ein höheres Leben sein 



spiegeln. Aber es handelt sich immer zuletzt hier um die eine 
merkwürdige Person und um die Mitteilung des eigentümlichen 
Erlebnisses: „Ich lernte zwar nichts von dir, aber ich wurde \ 

besser, wenn ich mit dir sprach.** Selbst Xenophon bringt, wenn 
man seine Dialoge richtig liest, nämlich als nicht zu Ende geführt, 
sehr wenig feste Antworten, die sich nicht leicht als seine eigenen 
nachweisen lassen. 

* Vgl. auch J. Bruns, Das lit. Portrait d. Gr. S. 203. 



— 64 — 

Geheimnis zu offenbaren. Welche leidenschaftliche, fast 
religiöse Hingebung erfuhr er von den Chärephon und 
Apollodor, wie rang selbst die irdische Leidenschaft des 
jungen Alkibiades um das Rätsel des wunderbaren 
Lehrers. Die Innerlichkeit stand hier plötzlich vor allen 
in ungeheurer Grösse. Der äussere Glanz verschwand 
mit einem Schlage. Die kynische Lebensweise « — ^ dass 
sie schon Sokrates selbst geführt, beweisen die Wölken; 
und der Phädrus — die Vernachlässigung der ökono- 
mischen Praxis, alles erschien der Zeit unbegreiflich, 
unvereinbar diese Schönheit der Seele mit den hässlichen 
Formen seines Gesichts, die Tiefe seiner Wahrheit mit 
der prunklosen Schlichtheit seiner Worte. Er verkündete 
die Lehrbarkeit jedes Könnens, die Allmacht des Wissens, 
die Glückseligkeit der Wahrheit, er selbst schien im 
Besitz dieser Eudämonie zu leben und behauptete doch, 
nichts zu wissen und immer noch suchen zu müssen. 
Der Spott, der Hass und der hingebende Glaube haben 
sich an diese Tatsache gehängt, das tiefe Verständnis 
für dieses Leben besassen, jeder in seiner Weise, nur 
zwei seiner Schüler, Antisthenes und Plato. 



VII. 

Grund der Aporie und ihre Konsequenzen 

bei den Schülern. 

Wie ein Blitz erleuchtet nun die Tatsache der Aporie 
eine ganze Zahl der Probleme der sokratischen Literatur ^ 

* Ich erinnere an die Schwierigkeit, dass ihm das Wissen 
allmächtig schien. Solange es ihm fehlte, konnte er die Unmög- 
lichkeit der Akrasie behaupten. 



— 65 — 

Vor allem lässt sich von hier aus ein Mittel finden, 
um endlich einmal die inhaltliche Problemstellung des 
Sokrates und seine Lösungsversuche durchsichtig zu 
machen. Von vornherein verschwindet mit dem nega- 
tiven Besultat seiner Lebensarbeit die Anschauung, die 
ihn zu einem dogmatischen ütilitaristen macht — solche 
Leute endigen niemals mit einer Aporie. Zugleich ist 
aber auch jene Reduzierung der sokratischen Ethik auf 
einen Formalismus als das eigentliche Ziel seiner Philo- 
sophie, wie sie Natorp^ versucht, unmöglich. Sokrates 
ist es um eine materiale, objektive Bestimmung, um den 
Inhalt des Wissens, den Zweck, zu tun. Dass schliess- 
lich der Rationalismus hier überhaupt nicht über die 
Forderung des Gesetzes, die sog. „Normen" hinaus- 
kommt, und dass sein letztes Motiv des Handelns immer 
die logische Wahrheit wird, wenn er nicht im Hedo- 
nismus hängen bleibt, ist sein folgerichtiges Schick- 
sal, wie sich denn auch aus der Ethik unserer Auf- 
klärung Kant auf das formale Kriterium zurückzog, das 
sowohl die sittliche Beurteilung wie den sittlichen An- 
trieb rational zu machen scheint. Das bedeutet dann 
weiter nichts als die Objektivierung des Postulats einer 
allgemeingültigen Erkenntnis. Und so steht auch Sokra- 
tes immer wieder vor dieser letzten Sicherheit, dass es eine 
Wahrheit geben muss, die der einzige Bestimmungsgrund 
des Willens sein darf, aber allein schon seine Voraus- 
setzung, dass der Wille immer das Gute will, zeigt den 
objektiven, materialen Sinn dieser Wahrheit. Und wenn 
ihm das Gute immer identisch wird mit der Erkenntnis 



* Natorp a. a. 0. S. 27. 
Nohly Sokrates und die Ethik. 5 



— 66 — 

des Guten, so ist er sich des Misslingens seiner Unter- 
suchung eben bewusst. 

Mem. I 4 1 heisst es: Manche glaubten vom Sokrates» 
hindern sie es aus dem, was einige mündlich oder.schrift« 
lieh Yon ihm berichteten, schlössen, däss er zwar darin 
vollkommen stark gewesen sei, den Menschen zur Tu- 
gend anzutreiben, aber nicht zu derselben habe hinführen 
könnend Maü sieht, dass es damals schon eine kri- 
tische Opposition gab, die dem Sokrates auf Grrund der 
Dialoge, die ihn darzustellen suchten, die Eesultatlosig- 
keit vorwarf. Im Kleitophon ist uns nun eine solche 
Rezension erhalten, und wir überschauen in ihr eine 
breite Literatur der verschiedensten Schüler des Sokrates, 
die trotz aller Anstrengung überall mit der Aporie endeten, 
Ist es zuviel behauptet, dass dies in dem Ausgangspunkt 
des Lehrers gelegen sein musste, dass das eben seine 
Aporien waren? Zu jenen negativ verlaufenden Dia- 
logen gehören aber auch aUe Werke des jungen Plato. 
Solange man sie mit Schleiermacher und Bonitz als 
„didaktisch^ vorbereitend ansah, musste man in der 
Besultatlosigkeit ein rednerisches Kunstmittel erblicken, 
das ironische Spiel eines Menschen, der die Wahrheit 
längst besitzt. Aber ganz abgesehen von der ernsthaften 
Behauptung des Nichtwissens, welcher junge Mensch 
vermag seine Produktivität so zu zähmen, dass er Jahre 
hindurch sein bestes Wissen willentlich verbirgt?* Zu- 



^ Ich will hier gleich sagen, dass ich an eine Schriftstellerei 
Flatos zu Lebzeiten Sokrates glaabe, wenn er auch seine Dialoge 
nicht veröffentlicht haben wird. Da hat Jvo Bruns sicher recht, 
auch widerspricht dem das Verbot des Sokrates, das in der Apo- 
logie (39) erwähnt wird. Mir scheint aber auch gerade dieses, 



— 67 — 

dem muss man da von« der entwicklungsgeschichtlich 
unmöglichen Voraussetzung ausgehen , dass Plato den 
Zusammenhang seiner Einsicht von vornherein besessen 
habe. Dümmler * und Joel verstehen diese Dialoge mit 
negativem Ausgang als die Kritiken fremder sokratischer 
Standpunkte; dann stände auch hier die feste Erkennt- 
nis dahinter — eine wunderliche Art der Polemik, die 
den sicheren Massstab der Wahrheit hat, ihn aber nie- 
mals benutzt. Beidemal ist die positive Energie ver- 
kannt, die mit allen Schmerzen eines leidenschaftlichen 
Wissensdranges sucht und die systematische Arbeit eines 
auf Erkenntnisbestimmung gerichteten Geistes ist. Man 
sieht Plato in dem Zustand, den jeder Schüler den ver- 
trauten Fragen seines Lehrers gegenüber durchmacht, 
und wir glauben ihm, wenn er von seinen „Tantalus- 
schätzen" spricht und dass er „wie im Taumel in der 



^welche ich nur bisher zorückgehalten^, zu beweisen, dass manche 
der Dialoge schon geschrieben waren. Bei diesem Eifer, die Keden 
zu hören und andern wieder zu erzählen, über dem von den ernste- 
sten Männern, wie von Kindern, wenn ihnen ein Märchen erzählt 
wird, alle Greschäfte vergessen werden, wäre es seltsam, wenn sie nicht 
von den Schülern notiert worden wären. Im Theätet wird es ja 
auch behauptet. Mir ist immer das Merkwürdigste, dass es eine 
mögliche Form für Plato war, den Sokrates selbst gehabte Ge- 
spräche wiedergeben zu lassen, wie im Charmides, Lyses, Prota- 
goras, Euthydem, am groteskesten in der Politik. Sokrates muss 
eben selbst seine Dialoge mit andern schon kunstmässig wieder- 
erzählt haben. Wie es denn im Theätet heisst: „Da ich nun nach 
Athen kam, erzählte er mir die Unterredungen, welche sie gehabt.** 
Mit dem Gorgias, zu dein die Apologie und der Kriton in engster 
Beziehung stehen, setzt die neue Periode ein, die ein durch den 
Tod des Sokrates ganz verwandeltes Lebensgefühl hat (vgl. Dümm- 
ler, Akademika), aus dem die neue Philosophie entsteht. 
' Vgl. Akademika S. 60. 

5* 



— 68 — 

Irre laufe und wie im Fieber^ \ Denn das ist nun das 
Entscheidende: auf den Wegen und bei den Voraus*- 
setzungen, die in diesen Dialogen gelten, kann an eine 
Lösung gar nicht gedacht werden, hinter diesen Aporien 
kann gar kein Wissen stehen, denn sie sind tödlich. 

Erst eine Verschiebung des Ausgangspunktes ver- 
mochte aus einem ganz neuen Lebensgefühl heraus das 
Denken darüber hinauszuführen. Ich setze aber gleich 
hinzu, dass mir die meisten auch der späteren Dialoge 
Piatos viel mehr von dieser philosophischen Lebendig- 
keit des Problemesehens und nur hypothetischen Lösen- 
könnens zu besitzen scheinen, als man gewöhnlich dar- 
stellt. Seine ganze Philosophie hat durch die Ueber- 
nähme der sokratischen Methode, die Tatsachen des 
Bewusstseins stehen zu lassen und auf ihre Bedingungen 
zurückzugehen, diese Eigentümlichkeit behalten, bis in 
die späten Jahre undogmatisch zu bleiben. Wie er keine 
fertige Lehre zu übermitteln hatte, so bleibt ihm auch 
seine Ideenlehre Zeit seines Lebens eine Hypothese, mit 
der er die Probleme des Lebens und der Wirklichkeit 
zu erklären versucht, die aber fortgesetzt die flüssige 
Lebendigkeit bewahrt. Immer ist ihm das Wissen als 
eine unendliche Aufgabe erschienen und die Aporie 
Menschenschicksal, das er sich metaphysisch zu begrün- 
den versuchte. 

Jene Voraussetzungen und Ziele aber, die den nega- 
tiven Erfolg der ersten Dialoge bedingen und erst durch 
die Plato ganz eigentümliche Ideenlehre beseitigt sind, 
werden schon dem Lehrer gehören. Und nehmen wir 



* Vgl. auch Lysis 216 c. 



— 69 — 

dazu, was vir von der Beurteilung des sokratischen 
Wissens durch Antisthenes, von seiner Benutzung der 
Dialektik zurEristik wissen, schUessUch die paradigma- 
tische Protreptik, die Flato dem Antisthenes gegenüber im 
Euthydem ausspielt, so haben wir ein breites Material, 
um uns die Arbeit des Sokrates und zugleich in etwas die 
Entwicklungsgeschichte seiner Schüler deutlich zu machen. 
Kleitophon stellt sich ganz auf den Boden der 
sokratischen üeberzeugungen. Er glaubt an die ün- 
freiwilligkeit des Bösen, an das Herrschaftsrecht der 
Technik und die Notwendigkeit der Bildung, aber for- 
dert nun auch eine Befriedigung dieser ethischen Auf- 
regung. „Soll dies unser ganzes Leben lang unser Ge- 
schäft sein, die noch nicht aufgeregten anzuregen, und 
diese wieder andere?** Wir sind uns einig, dass der 
Mensch das tun müsse, aber was nun? Wie fängt man 
es nun an, die Gerechtigkeit zu lernen? So rächte sich 
die platonische Uebertreibung der Protreptik in der 
Apologie. Aber nun geht die Kritik weiter auf die 
Bestimmungen der Dialoge. Welches ist der Wert der 
Gerechtigkeit? Da lauten die Antworten verschieden: 
Das Vorteilhafte, Geziemende, Nützliche, Zweckmässige. 
Nun hat aber jede Technik ihr eigenes Ziel, also die 
Gerechtigkeit? Da sagt denn der scharfsinnigste von 
den Schülern: die Freundschaft, die als unbedingtes 
Gut bestimmt wird, näher dann als Gleichgesinntheit 
und zwar auf Grund gleicher Erkenntnis. Wo sich 
denn der Zirkel auftut, denn die Frage ist eben nach 
•dem Inhalt dieser Erkenntnis. „Die von dir beschriebene 
Gerechtigkeit weiss selbst nicht, wohin sie zielt, und un- 
bekannt ist, welches wohl ihr Wert sein mag.** 



— 70 — 

Eine andere Aporie zeigt sich darin, dass dnmal 
den Feinden zu schaden gerecht ist, ein andermal die 
Grerechtigkeit immer nur Gutes tut. Es ist der Wider- 
spruch, der den Historikern immer zwischen Plato 
(Grorgias, EepubUk) und Xenophon (IV 2 15) entgegentritt, 
der sich aber dem Sokrates selbst schon gezeigt hat, nicht 
aber als zwei verschiedene Stufen der Sittlichkeit, wie 
er uns leicht erscheint, sondern als das Gegeheinander- 
stossen der utilitarischen mit der rein ethischen lieber- 
legung, deren beiderseitige Berechtigung ihm Voraus- 
setzung war (s. das I. Buch der Republik). Die Kritik 
schliesst dann: „einem schon aufgeregten Menschen 
kannst du fast sogar ein Hindernis sein, dass er, nicht 
zur Vollendung in der Tugend gelangend, glückselig 
werde, Kleitophon will sich noch lieber dem Thrasy- 
machos in die Arme werfen. Eins der Werke, auf die 
er zielt, muss das I. Buch der Bepublik gewesen 
sein. Das ursprünglich isolierte Erscheinen desselben 
lässt sich heute wohl kaum noch bestreiten. Siebecks 
sprachstatistische Untersuchungen beweisen das, ebenso 
auch die Aenderung in Situation, Methode und Stil, die 
mit den andern Büchern eintritt. Aber das Problem 
der Ueberarbeitung schliesst jede Sicherheit aus, darum 
möchte ich hier auf die Dialogführung nicht eingehen. 
Seinem ganzen Wesen nach gehört indes der Anfang 
eben noch in jene Periode Piatos, in der er von sokra- 
tischen Voraussetzungen aus die feste Definition sucht 
und das Bewusstsein der Ungelöstheit der eigentlichen 
Kernfrage behält. Die Gerechtigkeit ist die Wissen- 
schaft Yon dem Naturzweck der Seele, aber noch fehlt 
ihm die Möglichkeit einer inhaltlichen Bestimmung, und 



— 71 — 

80' schÜBsst das Buch: ^Solange ich nicht weiss , was 
die Gerechtigkeit ist, hat es gute Wege, dass ich wissen 
soUte, ob es eine Tugend ist oder nicht und Ob der, 
welcher es an sich hat, nicht glückselig ist oder glück- 
selig.*' Der Gorgias fand hier die Antwort und im 
Elriton gilt der Beweis schön als Yoraüssetzüng. 

Der zentrale Dialog der sokrätischen Stufe Piatos 
ist der Frotagoras. In ihm überschaut man die ganze 
Lage und den Zusammenhang der Probleme ain um- 
fassendsten. ' Natorp hat eine schöne Analyse dieses 
Dialogs gegeben, aber da er von der ganz grundlosen 
Voraussetzung ausgeht, dass für Sokrates die Tugend 
nicht lehrbar sei — absolut nicht — verschiebt sich 
ihm der Zusammenhang und das Resultat. Sokrates 
leugnet die Lehrbaxkeit nur bei der gegebenen Lage des 
Nichtwissens, und zeigt dann als die Bedingung der 
Lehrbarkeit die Erkenntnis. „Denn wenn die Tugend 
etwas anderes wäre als die Erkenntnis, wie Protagoras 
zu behaupten unternahm, so wäre sie sicherlich nicht 
lehrbar.** Indem er dann davon ausgeht, dass das An- 
genehme ein Gutes sei, zeigt er, dass es eine Rechen- 
kunst des Lebens geben könne, die alles Handeln ab- 
misst nach diesem letzten Zweck der Lust: dass also 
die Tugend, die das Gute tut, ein Wissen sei. So 
scheint die Lehrbarkeit bewiesen, und Sokrates sagt 
lächelnd: „So scheine ich mich selbst widerlegt zu 
haben**, aber es fragt sich eben noch, ob die Induktion, 
die das Resultat gegeben hat, nicht unvollständig ist, ob 
mit dem Angenehmen der Begriff des Guten erschöpft 
ist. Die Lust ist etwas Gutes, das ist auch seine feste 
Voraussetzung. Er lässt aber auch offen, ob nicht „das 



— 72 — 

Gute noch etwas anderes sei als die Lust, und das 
Böse noch etwas anderes als die Unlust." Für die 
augenblickliche Beweisführung genügt es. Denn von 
dem Angenehmen führt ein klarer Weg zur Bestimmung 
der Tugend als Wissen. Der Hedonismus ist die eine 
Möglichkeit, die dem Bationalismus gegeben ist, die 
Werte zu ordnen, indem er sie als qualitativ gleiche 
quantitativ nebeneinanderstellt. — Auf die verschiedenen 
spezialen Formen, die dann auch hier wieder logisch 
ganz gleichwertig erscheinen können, gehe ich nicht ein. 
Ganz falsch ist es, bei der sokratischen Annahme 
der Lust als etwas Gutem von einem Zugeständnis an 
den Sophisten zu reden, um von dessen Standpunkt aus 
die Einheit der Tugenden im Wissen zu beweisen. Denn 
damit hätte er sich selbst nichts bewiesen. Aber ebenso 
muss auch gesehen werden — und das ist vor allem gegen 
die Abhandlung Heinzes gesagt — , dass ihm damit die 
ganze Tugend noch nicht bestimmt ist, denn er verlangt 
eine neue Untersuchung, was sie denn nun sei. Die 
Aporie tritt selber nicht auf. Das aber ergibt sich 
deutlich: Das Angenehme ist einer der Bestandteile, 
die in der Substantialität des Sittlichen enthalten sind. 
Von ihm aus lässt sich die Möglichkeit des Wissens 
klar demonstrierend Trotzdem aber hält Sokrates die 
Tugend noch nicht für lehrbar, weil das Wissen damit 
noch nicht endgültig bestimmt ist, da das Angenehme 
den Gehalt der Güter nicht erschöpft. 



^ Hier setzt dann Aris tipp ein. Auch sein Standpunkt war 
gegründet in dem sokratischen, war mitenthalten in der vollen 
Menschlichkeit des Meisters, wurde nun aber isoliert herausgehoben 
und konsequent durchgeführt. 



— 78 — 

Einen tieferen Einblick in das Gewebe der Ge* 
danken und die notwendige Verwirrung der Fäden, die 
schUesslich immer abrissen, geben uns der Ljses, Char- 
mides, Euthyphron und Hippias d. Gr. 

Der Lyses will bestimmen, was Freundschaft sei. 
In mehrfachem Ansturm geht die Untersuchung vor und 
sinkt immer wieder zurück, bis schliesslich die Freunde 
— und Sokrates rechnet sich beim Abschied ausdrück- 
lich darunter — betäubt auseinandergehen, die sich 
Freunde nennen und nicht einmal wissen, was das sagen 
will. Ich lasse alles Beiwerk beiseite. Schon in dem 
zweiten Abschnitt des Präludiums wird die Voraus- 
setzung festgestellt, die in der Technik gültig, stets als 
iiicher erscheint: niemand wird etwas lieben in Hinsicht 
auf das, wozu es unnütz, unbrauchbar ist. Die eigent- 
liche Untersuchung geht von der Liebe des Guten zum 
Guten aus, die so offenbar ist, und erklärt sie als um 
der Aehnlichkeit willen. Aber ein doppelter Gedanken- 
gang weist das ab. Denn es ist ebenso gewiss, dass ein 
Freund nützlich ist. Der Aehnliche aber, insofern er 
mir ähnlich ist, kann mir nichts nutzen, hat also auch 
keinen Wert für mich. Und zweitens ist der Mensch, in- 
sofern er gut ist, sich selbst genügend, als guter Mensch 
also kennt er keine Werte, also auch keinen Freund. 
Wir sehen : wie Sokrates im Protagoras das Angenehme 
im Guten mitbefasste, so trägt für ihn auch der Be- 
griff der Freundschaft die beiden Seiten in sich des 
ethischen Verhältnisses und des utilitarischen. Wir sehen 
aber auch schon, wie hier eines das andere zerstört. Die 
Untersuchung will nun umgekehrt von dem Utilitarischen 
ausgehen. Man liebt das, dessen man bedarf, also was 



— 74 — 

-man nicht hat, das einem entgegengesetzt ist. Aber 
hier stossen wir wieder auf die absoluten Gegensätze 
gut und böse, gerecht und ungerecht, zwischen denen 
keine Brücke ist. Noch tiefer zu fassen sucht der dritte 
Ausgangspunkt, der nun ¥on Flato selbst erfunden ist, 
indem er zwischen die starren Gegenüberstellungen der 
zwei entgegengesetzten Begriffe einen Mittelbegriff ein- 
schiebt, als den Ausdruck seines dualistischen Bewusst- 
seins von der Gemischtheit alles Menschlichen: das 
Indifferente ersehnt wegen eines Mangels, der an ihm 
haftet, das Gute. Das war das eigenthche Pathos 
seines Lebens» Aber noch ist das Garn so verwirrt, 
dass es nicht frei werden kann. Das Gute erscheint 
hier als Mittel gegen das Böse zum Zweck des Guten* 
Dieses muss uns wieder um eines andern Guten willen 
da sein, und so erscheint alles uns lieb um eines andern 
willen. Schliesslich müssen wir auf einen letzten Zweck 
kommen, einen absoluten Zweck, dessen Schattenbilder 
und Mittel alle andern sind» Der aber hat seinen Wert 
nur, weil ein Böses da ist, mit dem er wieder ver- 
schwindet, an sich selbst hat er keinen Nutzen. Ein 
letzter Versuch geht von dem Begehren aus, das auf 
das Angehörige gerichtet ist. Aber dieses stellt sich 
als identisch mit dem Aehnlichen heraus, das sich doch 
als unnütz erwiesen hatte. „Zu dem Unnützen aber als 
Freund sich zu bekennen, ist Frevel." Und selbst wenn 
man zugibt, das Angehörige sei etwas anderes als das 
AehnUche, gerät man in die alten Aporien. Schlag auf 
Schlag geht am Schluss die Dialektik gegeneinander 
und die Untersuchung kommt nicht weiter. Die Be- 
griffe stehen sich starr gegenüber. Die Freundschaft 



— 76 — 

'ist bewusst als etwas Gutes und Schönes« Eine Mög- 
lichkeit, Werte rationell zu begreifen, gibt aber — ab- 
gesehen von der Lustordnung (s. oben) — nur das Ver- 
hältnis von Zweck und Mittel, die utilitarische Be- 
trachtungsweise. Das Nützliche soll im Begriff der 
Freundschaft mit umfasst werden und kein Gedanke 
bringt das zusammen. 

Der Charmides versucht eine Definition der Be- 
sonnenheit zu geben. Durch allerlei Zugeständnisse des 
Sokrates — man vergleiche aber schon die Widerlegung 
•der zweiten Antwort, wie hier der UtiUtarismus wirksam 
ist — einigt man sich schliesslich dahin, dass der 
besonnene Mann weiss, was er weiss und was er nicht 
weiss. Denn Sokrates sagt, er habe im Gefühl, dass 
Besonnenheit etwas Gutes und Nützliches sei. Mit einer 
solchen Kenntnis könnte man aber sein Leben so ein- 
richten, dass man selber tut, was man versteht, und 
andere handeln lässt, wenn sie Bescheid wissen. Jede 
Kenntnis nun bringt etwas Gutes, welche aber macht 
den Menschen glücklich ? Die einzelne technische Kennt- 
nis tut es nicht, auch alle zusammen nicht, sondern es 
braucht eine ganz besondere, die von gut und böse. Die 
Aporie ist hier versteckter, ähnlich wie im Protagoras. 
Wie sie dem Mitunterredner erscheint, sieht sie nicht 
aus. Denn die gesuchte Besonnenheit wird wohl jene 
Wissenschaft vom Guten und Bösen sein, die eine Struk- 
tur hineinbringt in das Leben, und der alles andere 
Wissen dienen muss. Dies wird indessen nicht aus- 
gesprochen, sondern die Frage, was ist Besonnenheit, 
wird offen gelassen, einfach aus dem Grunde, weil Plato 
wohl bewusst war, dass er die Begriffe einer solchen 



— 76 — 

-Wissenschafli, nämlich gut und böse, nicht hätte defi- 
nieren können, ohne dass die Einheit derselben aus- 
einjanderfiel in die Kenntnis der einzelnen Techniken, 
-die er gerade vorher abgewiesen hatte. „Nicht ein kun- 
diges Leben betrirkt unser Glück und Wohlergehen, 
noch das nach allen andern Kenntnissen insgesamt ein- 
gerichtete, sondern allein das nach der Kenntnis geleitete, 
die sich auf das Gute und Böse bezieht.*' Jede einzelne 
Technik erfüllt einen Zweck, aber damit alles auf eine 
gute und nützliche Weise geschehe, bedarf es dieser 
ethifich-utilitarischen Wissenschaft. Das Bewusstsein ver- 
langt eine höhere einheitliche Form der Lebensgestaltung, 
aber da der Nutzen mit in das Ziel aufgenommen ist, 
so muss bei der nächsten Frage, z. B. ob die Gesund- 
heit etwas Gutes sei, die einzelne Technik wieder auf- 
kommen, weil sie eben bestimmte Zwecke erfüllt. 

ImEuthyphron erhält das alte Problem dadurch 
eine neue Beleuchtung, dass das Verhältnis der Götter 
zur Tugend mit in die Untersuchung gezogen wird. Der 
Begriff Soioc, um den es sich zunächst handelt, wird 
definiert als das, was den Göttern angenehm ist. Wenn 
nun von Menschen die Rede wäre, dann wäre das An- 
genehme nicht eindeutig zu bestimmen, denn während 
es in allen andern Techniken, in den Mess- und Kechen- 
künsten über das Sichtige gar keinen Streit gibt, sondern 
der Kundige entscheidet, gibt es über die Begriffe gut 
und böse , Recht und Unrecht keine Einigkeit. Man 
sieht, wie hier das Ethische gleich wieder mit dem An- 
genehmen zusammengegriffen wird. Nehmen wir nun 
aber auch an, dass die Grötter über diese Begriffe alle 
derselben Meinung wären, dann fragte es sich immer 



— 77 — 

noch, warum sind sie ihnen angenehm. Bei den Göttern 
kann Yon Nutzen nicht die Rede sein^ und so bricht die 
Untersuchung, da dann die Mittel rationaler Bestimmung 
fehlen, gleich im Anfang ab. 

Im grossen Hippias kommt zu den beiden Aus- 
drücken, in denen Sokrates das Ethische begreift, noch 
ein dritter hinzu, das Schöne. Eine rationale Aesthetik 
soll gefunden werden. Von vornherein will Sokrates 
das Wesen des Schönen definieren als das, was den 
Grund abgibt, warum etwas schön ist, nicht warum es 
schön erscheint, also mit einer ethischen Spitze statt 
einer ästhetischen, und er identifiziert dann schön und 
brauchbar. „Wir beobachten die natürliche* Beschaffen- 
heit eines Gegenstandes, seine Verfertigung, Stellung, 
und nennen das Brauchbare schön, insofern es brauchbar 
ist, das Unbrauchbare aber hässlich." Die Definition 
wird dann noch vertieft, dass nur das zum Guten und 
Nützlichen Brauchbare gemeint sei. Jetzt haben wir alle 
drei Begriffe zusammen, das Gute, das Nützliche und 
das Schöne, aber im Augenblick gleiten sie wieder aus- 
einander. Denn das Nützliche ist das Mittel, das seinen 
Wert nur zu Lehen trägt, und wenn das Schöne gleich 
dem Nützlichen ist, dann sind schöne Gestalten, schöne 
Satzungen, Weisheit nur Mittel zum Guten, haben keinem 
Selbstwert, und das Schöne wäre nicht gut, und das Gute 
wäre nicht schön — dagegen sträubt sich das ganze 
Gefühl. 

Ein zweiter Ansatz sucht das Schöne zu verstehen 
als die sinnliche Erscheinung, die nur Genuss schafft 
durch Auge und Ohr. Aber hier gibt es kein Mittel 
den Grund zu sagen, warum nun dieser Genuss 6in 



4 



-^ 78. -^ 

anderer ist wie der, der aus Essen und Trinken besiehti 
oder man muss ihn wieder als unschädlich und nützlich 
bezeichnen. Es drängt alles dazu, eine besondere Wesen- 
haftigkeit des Schönen anzunehmen, aber noch ist das 
Bewusstsein davon nicht da, und die Begriffe führen ein 
verwirrendes Spiel auf. 

Es ist immer dasselbe, die Dialektik scheitert, weil 
die Kategorien der Technik, von denen sie ausgeht und 
mit denen sie denken muss, Mittel und Zweck, versagen 
gegenüber der überragenden Inhaltlichkeit des sittlichen 
Bewusstseins. 

Immer breiter wächst in Piatos Denken diese Aporie 
empor, immer neue kommen dazu. Im kleinen Hippias 
wird bewiesen, dass derjenige, der absichtlich unrecht 
tut, besser ist als derjenige, der es imabsichüich tut. 
Wohl lagert hier im Hintergrund der sokratische Satz, 
dass niemand mit Absicht das Böse tut, und man hat 
den Dialog so erklärt, als fände die Aporie darin ihre 
Auflösung. Aber dann würde der Dialog auf einen 
Witz angelegt sein, man begreift nicht, warum die Er- 
innerung an den sokratischen Satz so absichtlich ver- 
mieden ist. Auch hier ist die Aporie eine tatsächliche. 
Hippias sagt: Das kann ich dir unmöglich zugestehen, 
lieber Sokrates, und Sokrates antwortet: „ich mir selbst 
nicht einmal.'^ Ich glaube nun auf keinen Fall, dass 
dies Ironie sein soll, dagegen spricht der starke Ernst 
der vorangegangenen Untersuchung, vor allem aber jene 
Stelle in der Mitte des Dialogs, in der sich Hippias auf 
sein sittliches Gefühl beruft und auf das Gesetz, das 
denjenigen, der absichtlich unrecht tut, mehr bestraft 
als denjenigen, der es unabsichtlich tut. Und Sokrates 



\ 



— 79 — 

antwjbrtet: „Mir stellt sich in allem das Gegenteil dar, 
diejenigen, die absichtlich andern schaden, unrecht tun, 
lügen, betrügen, sind besser, als wer es ohne Absicht 
tut. Bisweilen jedoch bin ich entgegengesetzter Meinung 
und treibe mich darüber in die Irre, offenbar weil ich's 
nicht weiss. In diesem Augenblick aber hat mich eine 
Art Fieberanfall getroffen und es scheint * mir besser, wer 
absichtlich lügt usw. Die Schuld an meiner gegenwärtigen 
Stimmung trägt unsere vorangegangehe Untersuchung." 
Diese aber war ausgegangen von der Technik: der 
Wissende konnte immer am besten die Unwahrheit sagen 
und darum war der gute Lügner und der, der die Wahr- 
heit sagt, einander gleich. Das sittliche Bewusstsein 
sträubt sich aber dagegen, dass hier ein Unterschied, 
der für das Wissen allerdings nicht da ist, auch ethisch 
nicht vorhanden sein soll, und anstatt nach dem sokra- 
tischen Gedanken hinüberzuleiten, dass der Wissende 
immer richtig handelt, spitzt sich der Dialog zu einem 
Zusammenstoss mit dem logischen Baisonnement zu, in 
dem das letztere einen Augenblick zur Herrschaft ge- 
kommen ist, aber ein quälendes Gefühl bleibt, dass dieser 
Sieg ein unmöglicher ist, weil der theoretische Satz am 
Ende seine Gültigkeit doch nur in dem sittlichen Be- 
wusstsein findet, und weil das sittliche Bewusstsein des 
Plato den Dualismus kennt, der durch die Welt geht 
und nichts weiss von jener sonnigen Selbstverständlich- 
keit des guten Willens, wie sie in Sokrates lebtet 

Eine weitere Aporie zeigt sich im Lach es. Auch 
hier steht im Hintergrund eine sokratische Auflösung. 



^ Hier findet der Phadrus die Lösung. 



— 80 — 

Der Protagoras, der dasselbe Problem auch behandelte^ 
müsste dann die Antwort sein und der Laehes wäre 
weiter nichts als eine Vorstudie, die Aporie wirklich nur 
ein Kunstmittel. Ich glaube aber, dass jetzt die sokra- 
tische Antwort nicht mehr zufriedenstellt, sondern dass 
im Bewusstsein eine neue Voraussetzung lebendig ge- 
worden ist, die mit ihr im Widerspruch steht, und dass 
der Dialog auf diesen Gegensatz gebaut ist. Um 
sich methodisch die Untersuchung zu erleichtem, will 
man sie nicht über die ganze Tugend führen, sondern 
nur über einen Teil, die Tapferkeit. Diese wird be- 
stimmt als ein Wissen. Vor dem entscheidenden Schlag 
heisst es dann: „Gib uns noch einmal von Anfang an 
Bescheid. Erinnerst du dich, dass wir, Laehes und ich, 
zu Anfang unserer Unterredung die Tapferkeit als einen 
Teil der Tugend bestimmten? Sahst du, l^iMas, sie 
nun nicht auch bei deiner Erklärung als einen Teil an, 
deren es gewiss noch mehrere gebe, die alle mit dem 
!Ramen Tugend bezeichnet werden? Ich nenne nämlich 
ausser der Tapferkeit auch noch die Besonnenheit und 
die Gerechtigkeit und einige andere dergleichen.** Der 
Mitunterredner gibt das zu und Sokrates konstatiert: 
„hierüber waren wir einig.** Der Fortgang der Unter- 
suchung zeigt dann aber, dass, wenn Tapferkeit ein 
Wissen ist, sie die Kenntnis des Guten und Bösen sein 
muss, dass also die Tapferkeit nicht ein Teil der Tugend, 
sondern die ganze Tugend sein muss. Dann ist aber 
der Begriff der Tapferkeit nicht so definiert worden, 
wie er in dem sitüichen Bewusstsein lebt^ 



^ Aus diesem Widerspruch führt erst die Psychologie der Re- 
publik hinaus. 



— 81 — 

Die sokratische Methode war die ehrlichste, die es 
jemals gegeben hat. Indem sie nur aussprechen wollte, 
was ist und zwar in der ganzen Ausdehnung des all- 
gemeinen Bewusstseins, musste sie zu Ergebnissen führen, 
die der Individualität des Sokrates über den Kopf 
wuchsen. Und weil sie bei jedem auf das sittliche Be- 
wusstsein als den eigentlichen Erkenntnisgrund wies, 
mussten die Schüler mit ihren subjektiven Erfahrungen 
heraustreten, und so erhoben sich überall die Indivi- 
dualitäten mit ihren eigensten sittlichen Erlebnissen. Die 
alten Aporien verschwanden, neue traten an ihre Stelle. 
Wichtiger aber noch als die freie Entfesslung der Mög- 
lichkeiten ethisch einseitiger Bestimmung, die diese Männer 
repräsentieren, war, dass ihnen aus dem Schicksal ihres 
Lehrers, seiner Philosophie, wie seines Todes, aus der 
hohen XJeberzeugung und ruhigen Gewissheit seines Ster- 
bens die Erkenntnis eines höheren Lebens aufging, das 
in dieser Welt nicht rein zur Erscheinung kommen 
kann, so wenig, wie es sich im Wissen vollständig dar- 
stellen lässt. Dass der Mensch verwandt mit den Göt- 
tern sei, hatten die Dichter auch schon verkündet, das 
war tief im indo-germanischen Bewusstsein gegründet. 
Jetzt war die Aufgabe gegeben, diesen metaphysischen 
Zusammenhang zu bestimmen und begrifflich fassbar zu 
machen. Das Problem dieses höheren Lebens, wie es 
in der Person des Sokrates und seinem Schicksal sich 
zeigte, wurde der Ausgangspunkt einer neuen Philosophie. 
Wie die Schüler sahen, dass der Meister die Eudämonie 
auch dem Tode gegenüber behielt, den er freiwillig auf 
sich nahm, um seine Gerechtigkeit zu bewahren, ver- 
schwand der Wert der Güter dieser Welt, die ihn ver- 

Nohl, Sokrates nnd die Ethik. ^ 



— 82 — 

urteilte. Diesen Schritt tat Plato (Gorgias, Apologie, 
Kriton) wie Antisthenes und wahrscheinlich auch Euklei- 
des. Der Wert eines Lebens wurde nun bestimmt nach 
seinem Anteil an einem höheren Dasein. Das war völlig 
unsokratisch, und manche seiner Schüler gingen auch 
andere Wege, aber es war die Fassung einer Wahrheit, 
die sein Leben offenbarte. Und wie er trotz des höch- 
sten Besitzes aller Tugenden und geistigen Schönheit 
bis zuletzt seine Unwissenheit behauptete, musste den 
Schülern die Frage nach dem Wesen jener Parusie ent- 
stehen, in der sich ihnen die transzendente Welt auf- 
tat, und nach dem Verhältnis des Wissens, wie es 
Sokrates suchte, zu diesem Gehalt der Seele. Die Be- 
deutung des Begriffs, der für Sokrates nichts weiter war 
als die systematische Beschreibung des logischen Zu- 
sammenhangs seines empirischen Bewusstseinsgehaltes, 
mit der er sich aber doch der Wahrheit des einzelnen 
WoUens vergewissern wollte, und in der ihm schliesslich 
jeder Wert gegründet schien, wurde problematisch. 

Hier ging Antisthenes zuerst über ihn fort. Mit 
einem Euck zerreisst er die Fesseln der Dialektik. Tu- 
gend ist eine Sache der Tat und bedarf der Worte und 
der Gelehrsamkeit nicht. Es genügt die Stärke eines 
Sokrates. So interpretierte er sich das Schicksal seines 
Lehrers. Die Eesultatlosigkeit seiner Dialektik bewies 
ihm die Unmöglichkeit einer positiven Begriffsforschung. 
Er bildete die Antilogien des Protagoras fort, deckte vor 
aUem die Schwierigkeit des Begriffebildens, ihrer Ver- 
bindung im Satz, ihrer Uebertragbarkeit, vom nomina- 
listischen Standpunkt aus, auf und benutzte sie zur Eristik, 
zur blossen Zerstörung des Wissens und Befreiung des 



— 83 — 

Willens. Die Wahrheit ist nur im Eindruck gegeben. 
Alles Gedachte ist wirklich, aber nicht wahr, denn die 
oine Bedingung der Erkenntnis, das Subjekt, durch 
welches jedes Sein vermittelt ist, kann verschiedene 
Wertgrade haben und so das Göttliche in verschiedener 
Beinheit enthalten. Darum ist suchen, lernen und irren 
unmöglich. Der verschiedene Wahrheitswert kann nicht 
in Begriffen ausgedrückt werden, denn jedes Wort spricht 
immer ein ursprüngliches Element der Erfahrung aus, 
das eben erlebt werden muss; und eine Definition ist 
weiter nichts, als die in einem zusammengesetzten Gan- 
zen enthaltenen und aufgewiesenen elementaren Bestand- 
teile. So ist die Möglichkeit des Lehrens reduziert auf 
das Vorbild der Tat, die aher nur auf die Empfäng- 
lichen wirkt In der göttlichen Offenbarung der Sprache, 
der Dichtung, des Beispiels grosser Individuen ist die 
Wahrheit des Lebens gegeben. Wie sie mit Ueber- 
gewalt dem Menschen sich aufdrängt und ihn ganz er- 
füllt, ohne dass es da irgend eines Zusammenhanges 
von Begriffen bedarf, hatte er selbst von Sokrates er- 
fahren, und das war der Weg, den er seinen Schülern 
zeigte. Seine E[ritik der sokratischen Begriffslehre musste 
von Plato durchgemacht werden, und ein grosser Teil der 
Werke desselben ist von den Problemen des Antisthenes 
bestimmt. 

Uns muss hier zunächst am wichtigsten der Eu- 
thydem sein. Zu den Jugenddialogen gehört er nicht 
mehr, das beweisen schon die wortstatistischen Unter- 
suchungen. In ihm haben wir allerdings eine blosse 
Streitschrift, hinter der das Wissen steht, das nicht aus- 
gesprochen wird. Aber die Aporie, die hier dargestellt 



— 84 — 

wird, hat ein historisches Gesicht. Der Dialog will der 
eristischen Protreptik des Antisthenes die wahre, positive 
seines Lehrers gegenübei'stellen. So gewinnt er eine 
paradigmatische Bedeutung. Während die groben Kerle 
nur auf Widerlegung aus sind, geht Sokrates methodisch 
auf die feste Erkenntnis zu. Schon Dtimmler^ hat ge- 
zeigt, dass hier die Weisheit rein utilitarisch begründei 
wird, weil sie den richtigen Gebrauch zu Nutz und 
Glück lehrt, eine Beweisführung, die im Phädon ab- 
gewiesen wird. Es fragt sich nun, ob das Mittel zur 
Glückseligkeit jede Erkenntnis oder eine bestimmte ist. 
Unbedingt gewiss ist, dass sie diejenige sein muss, die 
uns etwas nützt. Die einzelnen Techniken verlangen 
alle ein höheres Wissen des rechten Gebrauchs. Eine 
Bestimmung dieser universalen Lebenstechnik aber will 
nicht gelingen. „Wie Kinder, welche den Schwalben 
nachlaufen, glaubten wir jede Wissenschaft gleich zu 
fangen und dann flogen sie uns immer weg." Schliess- 
lich bleiben sie stehen bei der königlichen Kunst, der 
Staatskunst. Das Problem ist hier: welches ist ihr 
eigentümliches Werk? Auf jeden Fall muss es nützlich 
sein, also etwas Gutes. Gut ist aber nichts anderes, wie 
am Anfang bestimmt worden war, als eine gewisse Erkennt- 
nis. Hier erscheint der Zirkel, den der Kleitophon her- 
vorhob. Was ist das für eine Erkenntnis? Sie muss 
das Mittel sein, andere besser zu machen. „Und wozu 
sollen uns diese gut sein? und wozu nützlich? Oder 
sollen wir noch weiter sagen, diese sollen wieder andere 
gut machen und die wieder andere. Worin sie aber gut 



< Akademika S. 273 f. 



— 86 — 

sind, das wird uns nirgends zum Vorschein kommen 
Also dies wird offenbar das ewige Einerlei, und noch 
ebensoviel oder gar noch mehr als zuvor fehlt daran, 
dass wir wüssten, welches doch jene Erkenntnis ist, die 
uns glückselig machen würde.** Aber auch die £[ritik 
eines Mannes wie Isokrates — der am Schluss doch 
wahrscheinlich gemeint ist und der in irgend einer Be- 
ziehung zur Kritik des Kleitophon stehen mag — ver- 
mag Piatos Glauben an die Richtigkeit dieses Weges 
nicht zu erschüttern. Er hatte damals schon die Rich- 
tung gefunden, die aus diesen Aporien hinausführte, 
ohne in Subjektivismus und Mystik zu verfallen. Im 
Menon hatte er sie zum erstenmal aufgezeigt. 

Schon im Gorgias hat die Lust, die im Protagoras 
noch das Mittel des Beweises für die Tugend als Er- 
kenntnis abgab, mit dem Ziel des Menschen nichts mehr 
zu tun. Das leidenschaftliche Ethos des Menschen, dem 
der Dualismus des Daseins bewusst geworden ist, stösst 
in ihm wie in Antisthenes diesen Teilinhalt menschlichen 
WoUens von sich — man erinnere sich an das wilde 
Wort des Kynikers (iavetY]v (loXXov 7) iQ0&6tY]v. Im Menon 
tritt noch einmal das Geständnis des Nichtwissens mächtig 
heraus. Die Voraussetzung, dass der Mensch das Gute 
immer will, bleibt bestehen, der Unterschied der Menschen 
besteht im Können. Auch das Problem des Laches ist 
immer noch ungelöst. Aber das Problem der Lehrbar- 
keit wird im Kampf gegen Antisthenes durch die Ideen- 
lehre beseitigt. Einig ist er mit ihm, dass es ein En- 
thusiasmus ist, der die Grösse des Menschen macht und 
dass sich in den Taten des Dichters, Religiösen, des 
Staatsmanns und vor allem des Philosophen eine gött- 



— 86 — 

liehe Welt offenbart. Aber diese göttliche Welt — und 
damit tritt er ihm schroff entgegen — ist selbst ein ge- 
gliederter Zusammenhang, der durch die Begriffe und 
deren Beziehungen ausgedrückt ist, die keiner empirischen 
Erfahrung entnommen werden können, da sie geben, was 
in keiner Wahrnehmung getroffen wird , Einheit , Zu- 
sammenhang, XJn Vergänglichkeit und Allgemeingültigkeit. 
In diesen einheitlichen Zusammenhang lässt sich die 
Welt der Erscheinungen einordnen, wie das Subjekt 
unter das Prädikat, von dessen metaphysischer Realität 
alle Ordnung, Festigkeit und Allgemeingültigkeit abgeleitet 
ist. Mit der Möglichkeit der Wiedererinnerung an diesen 
Zusammenhang der „Ideen ^, der in einer transzendenten 
Erfahrung erschaut wurde, und deren Logik sich die 
empirische Welt einfügt, weil sie selbst in dieser Ge- 
setzmässigkeit gegründet und nur so weit real ist, als sie 
an ihr Teil hat, ist die Möglichkeit des Wissens bewiesen, 
— natürlich nur hypothetisch, dessen ist sich Plato immer 
bewusst geblieben. Auf der Grundlage der Lehre von 
der göttlichen „Orthodoxie", die er mit Antisthenes teilt, 
hat er so eine Wissenschaftslehre aufbauen können, die eine 
Begründung und Organisation der Einzelwissenschaften 
ermöglicht, die Dialektik als die Lehre von der Logik 
des Universums, deren schwierigstes Problem von nun 
ab das Begreifen des Verhältnisses der empirischen 
Welt zur transzendenten war. Die Versuche Piatos, es 
mit seinen logischen Formen der Zusammenfassung und 
Einteilung auszudrücken, mussten misslingen; er fand 
einen ebenbürtigen Nachfolger in diesem ungeheuren 
Unternehmen menschlicher Denkenergie erst wieder in 
der Logik Hegels, die auf dem Boden dei' Transzendental- 



— 87 — 

Philosophie, als der Entwicklung des gesetzmässigen Zu- 
sammenhanges des Bewusstseins dasselbe wollte — auch 
hier natürlich vergeblich. Wichtiger doch als diese 
logische Interpretation des Zusammenhanges der Welt 
war der ethische und künstlerische Lebensgrund, aus 
dem sein dualistischer Idealismus herauswuchs und der 
in immer neuen Bildern seine Erfahrungen und Ahnungen 
aussprach. Flato wusste wohl, dass sich dem nur sym- 
bolisch beikommen lässt. Hier setzte später der Neu- 
platonismus, dem das geschichtliche Problem der Welt- 
entwicklung aufgegeben war, mit seiner neuen Meta- 
physik ein. Plato begnügte sich für alles, was über die 
zeitlose Ordnung der Formen und Gesetze hinausging, 
mit der mythischen Darstellung. Im Phädrus hat er 
zum erstenmal den metaphysischen Hintergrund der 
neuen Sittlichkeit, die schon im Gorgias verkündet war, 
offenbart. Hier sind alle Erfahrungen des Bewusstseins, 
die von den sokratischen Voraussetzungen aus unfassbar 
waren, erklärt. Ich brauche das nicht darzustellen. Das 
Wichtigste ist, dass die Zwiespältigkeit des Menschen, 
sein Kampf und seine Sehnsucht nach Reinheit und 
Vollendung der neue Ausgangspunkt ist, anstatt jenes 
unbedingten Willens zum Guten, der jedes Gut freund- 
lich anerkennen kann, weil er den schamlosen Affekt 
nicht kennt. Anstatt der Lust, von der „ein Dämon 
allen schlechten Dingen eine Spur beigemischt hat", soll 
der Mensch dem Gesetz der Seele folgen. Das ist nicht 
„die sterbliche Besonnenheit" und „jene von der Menge 
als Tugend gelobte Gemeinheit" der utilitarischen Ueber- 
legung, sondern die Erhebung in den göttlichen Zu- 
sammenhang durch die dialektische Entwicklung des 



— 88 — 

kosmischen Gehalts der Seele zu seinen reinen Formen, 
und Steigerung des irdischen Lebens zur höchsten Gre- 
walt durch die Nachbildung ihrer Schönheit und Durch- 
führung ihrer Gesetzmässigkeit. Wie realistisch das ge- 
meint ist, sieht man in der Republik, wie asketisch Plato 
es bisweilen verstand, im Phädon ^ — das war der Ein- 
druck des sokratischen Lebens, der auch bei Antisthenes 
zur Weltabkehr führte, nur dass Piatos objektivem Geiste 
das höchste Gut immer jene Ordnung der Welt blieb, 
wenn sie auch transzendent war. Je mehr aber sein 
Geist auf den Zusammenhang der erscheinenden Welt 
und ihr Verständnis gerichtet war, gewann er auch wieder 
ein klares Auge für die Gesamtheit menschlicher Werte. 
Im Philebus und in den Gesetzen ist die Lust, wenn 
auch nur .bestimmte Formen derselben, wieder in den 
Kreis des Guten aufgenommen. Auf diese Entwicklung 
kann hier nicht eingegangen werden. Nur noch dies 
eine. War nach dem Staat die Ordnung d^r Ideen 
schliesslich in der Idee des Guten gegründet, so will der 
Philebus den Inhalt dieser Idee bestimmen und findet 
ihn in dem Mass, als dem fundamentalen Ordnungs- 
prinzip, auf dem alle übrigen Güter, vor allem Schön- 
heit und Wahrheit, Wissenschaft und reine Lust ruhen. 
Tief gefühlt ist der metaphysische Wert jeder Tat, die 
der Mensch gegen sich selbst durchsetzt und die hier 
erscheint als die Einordnung in die universale Gesetz- 
lichkeit, deren Zusammenhang der Mensch in sich trägt 
und dem jede seiner Handlungen gemäss sein muss, wenn 

* Ueber diese Doppelseitigkeit vgl. Dilthey, Ueber die 
Funktion der Anthropologie. Berl. Akademiebericht, Phil, histor. 
Klasse 1904, I 5. 



— 89 — 

er die Einheit seines Gemüts behaupten will. Aber es 
ist leicht zu sehen, dass diese „reine Gesetzordnung" \ 
so gewaltig sie als lebendiges Motiv wirksam ist, für die 
einzelne Zweckbestimmung genau so leer ist, wie das 
sokratische Wissen es war, und kein rationales Kriterium 
für das einzelne Tun abgibt^. 



> Natorp a. a. 0. S. 328. 

' Diese Arbeit ist der vollständige Abdruck meiner Disser« 
tation. Die seither neu erschienene Literatur habe ich nicht mehr 
berücksichtigen können, insbesondere das Buch von G-omperz, 
^Die Lebensanschauungen der griechischen PhUosophen**, und das 
von Horneffer, „Plato gegen Sokrates". Mit beiden werde ich 
mich an anderer Stelle auseinandersetzen. 



:Nohl, Sokrates and die Ethik. 



Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig. 

Vom 

Werden dreier Denker. 

Fichte - Sdielllng - Schleiermacher* 

\?on 

[lic. Smil FuchS/ 

Repetent cn der Universität Slessen. 

8, 1904. m. 5.-. 



Fichtes Idealismus 

und die Geschichte. 

Von 

Dr. Emil Lask. 

Gross 8. 1902. M. 6.—. 

Johann Heinrich Lamberts Philosophie 
und seine Stellung zu Kant. 

Von 

Dr. O. Baensch. 

8. 1902. M. 2.—. 

Dr. Heinrich Rickert, 

Professor an der Universität Freiburg i. B. : 

Der Gegenstand der Erkenntnis. 

Einführung in die Transzendentalphilosophie. 

Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. 

8. 1904. M. 4.—. 

Kuhurwissenschaft und Naturwissenschaft. 

Ein Vortrag. 

8. 1899. M. 1.40. 



Die Grenzen der naturwissenschaftHchen 

Begriffsbildung. 

Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. 
8. 1002. M. 15.—. Gebunden M. 17.50. 



Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen und Leipzig. 

Aus 

den großen tagen der deut(d)en Pbilo(opbie. 

hic. theol. S. SA, 

leftl Profellor In Sieben. 

Klein 8. 1901. in. 1.80. Gebunden m. 2.60. 

Inhalt: Kant und die Erhabenheit des Geiltes Ober die Ratur. 
-« ßegel und der £ntwicklungsgedanke. -« Sdileiermadier und die 
Selbftflndigkeit der Religion. 

Wilhelm Windelband; 



Fidites Sdee des deutfdien Staates. 

8. 1890. m. 1.-. 

Vom System der Kategorien. 

(Aus den „Philosophischen Abhandlungen^, 
Christoph Sigwart zu seinem 70. Geburtstage, 28. März 1900, 

gewidmet.) 

Gross 8. 1900. M. —.60. 

Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 

Dritte, durchgesehene Auflage. 
Lex. 8. 1903. M. 12.50. Gebunden M. 15.—. 



Präludien. 

Huiid^e und Reden zur Einleitung in die PhiloFophie. 

Zweite, vermehrte fluilage. 

Klein 8. 1903. Hl. 6.60. Gebunden m. 7.60. 

Inhalt: Was iit Philoiophiet -- Über Sokrates. -* Zum Gedddit- 
nis Spinozas. -« Immanuel Kant. - Über Friedridi ßdiderlin. -^ Bus 
Goethes Philoiophie. -« Qber Denl^en und Tladidenken. -^ normen und 
Raturgeie^e. -« Kritifdie oder genetifdie ITlethodet -« Pom Prinzip der 
moral. - Das ßeilige. Eine Sliif^e zur Religionsphiloiophie. -« Sub 
specie aeternitatis. Eine ITleditation. 

aber Willensfreiheit. 

Zwölf Porlefungen. 
8. 1904. m. 3.60. Gebunden ITl. 4.50. 



C. A. Wagners Universit9ts-Buchdruckeret, Freiburg i. Br. 



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SoMalM und UM EOMK I 

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